Der Tunnel
Friedrich Dürrenmatt
Den Text findet ihr hier:
Interpretation
Der Zug und seine Insassen spiegeln die Welt und die in ihr lebenden Menschen wider. Er ist lang und in verschiedene Klassen unterteilt. In der ersten gibt es viele Plätze, die jedoch nicht alle besetzt sind und niemand, der nicht zur ersten Klasse gehört, darf sich dort setzen, auch, wenn der Zug aus allen Nähten platzt.
Die erste Klasse ist denen vorbehalten, die ein sicheres und sorgenfreies Leben führen können. Von diesen gibt es im Zug jedoch nicht viele, wie die schwach besetzte erste Klasse zeigt. Genauso wenige gibt es bei uns auf der Welt, wo nur ein Bruchteil der Menschheit ein angenehmes Leben führt.
In der zweiten Klasse ist es jedoch dicht gedrängt. Dort fährt die breite Masse, die den Großteil der Fahrgäste und auch der Weltbevölkerung ausmacht. Sie stehen dich beisammen und nehmen sich teilweise noch gegenseitig den geringen Freiraum weg. Um an dieser Klasse vorbeizukommen, aber auch, um in ihr zu bestehen, muss man schon drücken und drängeln. In der dritten Klasse, wo das Reisen und das Leben am wenigsten schön ist, findet man jedoch immer noch einen freien Platz. Der Zug ist somit das Spiegelbild der in Klassen geteilten Welt.
Die Menschen in dem Zug wiederum spiegeln die Menschheit und ihr Desinteresse an Verantwortung und der Bewältigung der um sie herum auftretenden Probleme und Katastrophen, wie der nicht enden wollende Tunnel zeigt, wider. Die Insassen des Zuges, gleichgültig, in welcher Klasse sie sitzen, kümmern sich nicht um das, was gerade um sie herum geschieht und dabei sie direkt betrifft. Ebenso kümmern wir Menschen uns nicht um die Probleme unserer Welt. Diese Probleme, Konflikte und Katastrophen werden von Jahr zu Jahr, sogar von Monat zu Monat immer deutlicher. Statt jedoch auf diese Probleme zuzugehen und deren Lösung in Angriff zu nehmen, wenden wir ihnen den Rücken zu und lenkt sich durch mancherlei Spielereien ab. Die Zuginsassen vertrauen auf das Können, die Routine und das Pflichtbewusstsein des Schaffners, des Zug- und Lokomotivführers, die für diese Arbeit ja auch ausgebildet sind und dafür bezahlt werden. Die Verantwortung für ihr eigenes Schicksal haben jedoch die Gäste im Zug mit dem Besteigen ihres Abteils abgegeben – so verhalten sie sich zumindest – und auf ihnen unbekannte Bedienstete übertragen. Niemand will für sich und schon gar nicht für andere Verantwortung übernehmen. So wie es die Fahrgäste sehen, sehen es auch die meisten Menschen auf der Welt. Man hat den Staat, man hat die Politiker, man hat das Parlament, die Kirche, den Wohlfahrtsverein, Greenpeace… Warum also soll man selbst noch etwas tun oder gar Verantwortung tragen? Man gibt sie den anderen in die Hand und vertraut der Obrigkeit. Diese Verweigerung, für sich selbst, für andere und für sein Umfeld Verantwortung tragen zu wollen, wird in den Fahrgästen zum Ausdruck gebracht, denn obwohl um sie herum etwas „Schreckliches“ geschieht, nimmt niemand Notiz davon.
Aber diejenigen, denen man Verantwortung aufbürdet, sind auch nur Menschen und stehen den Geschehnissen meist genauso hilflos und unwissend gegenüber. Dadurch, dass sie die Verantwortung und die Routine haben erkennen sie zwar zuerst, wenn etwas nicht stimmt und versuchen dann auch – manchmal – dagegen anzugehen. Wenn eine bestimmt Sache jedoch ersteinmal ins Rollen gekommen ist, kann es schon zu spät sein, um die Notbremsen zu ziehen. Von einem bestimmten Punkt an verselbstständigen und beschleunigen sich die Dinge und werden unkontrollierbar. In solchen unbekannten und beängstigenden Situationen gibt es zwei Handlungsalternativen: entweder, man verlässt das sinkende Schiff, bevor es ganz zu spät ist ( wie es der Lokführer und einer seiner Kollegen getan haben) oder aber sie machen im gleichen Trott weiter, lassen sich nichts anmerken und tun so, als sei gar nichts geschehen, wie es der Schaffner tut, der weiter die Fahrscheine kontrolliert. Auch die Mehrzahl der Passagiere ignoriert die veränderte Situation.
Aber wie es bei allem die Ausnahme gibt, die die Regel bestätigt, gibt es auch unter den Fahrgästen einige, die hinter den Schein der heilen Welt und der in ihr lebenden Menschen sehen können. Der junge Mann ist dafür ein Beispiel. Auch er schottet sich gegen die Außenwelt ab, meidet den Kontakt mit anderen Menschen und geht sogar so weit, dass er sich äußerlich so verändert, dass er nicht nur sonderbar und schusselig, sondern durch seine Leibesfülle für einige Menschen abstoßend ist. Er täuscht seine Umwelt und verbirgt seine Klarsicht. Er steckt sich Watte in die Ohren, damit die laute und unsichere Welt nicht zu ihm durchdringen kann und frisst sich Fett an, um vor dem, was er hinter den Kulissen der Welt gesehen hat und vor dem er sich fürchtet, geschützt zu sein. Er weiß nicht, was genau sich hinter den Kulissen befindet, er ahnt aber, dass dort etwas „Schreckliches“ ist. Die Menschen, die natürlich nichts davon wissen und weiter in ihrer heilen Welt leben wollen, halten ihn für einen Sonderling und er wird ausgegrenzt. Er ist ein Außenseiter mit komischen Ideen und sonderbarem Aussehen. Dieser junge Mann jedoch, der von allen anderen nicht ernst genommen und ausgegrenzt wird, steht jedoch für die Menschen, die der Welt gegenüber aufgeschlossen geblieben sind, die aktiv wahrnehmen und sehen, was in ihr vorgeht. Das, was sie sehen, will jedoch niemand wissen, sie können es aber auch nicht ignorieren und so werden sie zu Außenseitern.
Neben solchen wissenden und erkennenden Menschen gibt es noch Verantwortliche, die ihre Stellung und ihre Aufgaben ernst nehmen, aber nicht eigenständig handeln können. Das sind Menschen wie z.B. der Zugführer. Er weiß, dass etwas im Gange ist, traut seiner eigenen Entschluss- und Entscheidungskraft nicht und benötigt Hilfe, durch die ihm gezeigt wird, dass er nicht alleine ist und dass er für seine Aufgabe Unterstützung erfahren kann. Auch diese Leute benötigen also eine Gemeinschaft und auch Ablenkung, wie sie in der Geschichte durch die Zigarre symbolisiert wird. Sie ist etwas ganz Einfaches, was jedoch zwei sich völlig fremde Menschen zusammenbringt und angespannt Situationen auflockert, damit man Zeit zum Überlegen hat. Es sind oft die einfachsten Dinge, die in einer verworrenen Situation weiterhelfen.
Der Zug mit den Menschen rast in einen von Menschen selbst geschaffenen Abgrund. Der Tunnel, der mit Gewalt von den Menschen in den Berg gesprengt wurde, dessen Existenz jedoch kaum wahrgenommen wird, wird für sie das Ende ihrer eigenen Existenz. Der Tunnel ist unsere Welt, wie wir sie behandeln, verändern, bewohnen, ohne sie bewusst wahrzunehmen und darüber nachzudenken, wie wir auf ihr leben. Zu Beginn unserer Reise, unserer Existenz, ging noch alles langsam und in seinen gewohnten Bahnen vonstatten. Als wir jedoch einen bestimmten Punkt passierten, wurde alles in einer rasenden Geschwindigkeit unkontrollierbar und gefährlich. Diese Entwicklung der Menschen ist die rasende Fahrt in das Dunkel des Tunnels. Die Menschen nehmen diese Entwicklung jedoch nicht zur Kenntnis, den Abgrund, auf den sie zurasen, sehen sie nicht.
Nur einige wenige erkennen was vorgeht. Das Schreckliche ist nicht das, was die Menschen aus ihrem Leben und der Welt machen, sondern dass das, was sie tun, nicht mehr aufzuhalten ist. Das Schicksal ist unabänderlich und diese Unabwendbarkeit ist das Schreckliche, das der junge Mann hinter den Kulissen gesehen hat und vor dem er sich fürchtet. Das Schreckliche ist also nicht das, was mit uns passiert, sondern die Tatsache, dass man sich daraus nicht mehr befreien kann und das Geschehen nicht in eine andere Richtung umkehren kann. Die Menschen wollen die Welt, so wie sie wirklich ist, nicht sehen, doch wenn sie nicht bald die Augen öffnen, dann kann es auch für die Notbremsung schon zu spät sein. Vielleicht ist es das ja ohnehin schon.
Dann ist der Fall nicht mehr aufzuhalten und sie sind selbst von Gott verlassen. Das Schlimmste aber wird sein, dass die Menschen es nicht einmal merken.
Ich verstehe die Erzählung „Der Tunnel“ als eine Mahnung an die Menschen, dass etwas Ungeheures geschehen wird, wenn sie so weiterleben wie bisher. Das Dasein der Menschen geht auf eine dunkle und ungewisse Zukunft zu. Die Menschen leben überheblich und lassen sich bedienen, sie nutzen alles und jeden aus. Jeder ist allein auf seinen eigenen Vorteil bedacht und jeder kümmert sich letztlich nur um sich.