Die Wahrheit und das Märchen
Eines Tages ging wieder einmal die Wahrheit durch die Straßen der Menschen. Aber ihr einstmals strahlender Glanz war schon verblasst und ihre Kleider waren auch nicht mehr neu – an manchen Stellen war sie sogar schon etwas abgewetzt und verschmutzt. Sie sah in die Gesichter der Männer und Frauen und je öfter sie dort die glanzlosen Augen sah, je öfter sie die Worte und Sätze hörte, bei denen die Münder der Sprechenden dennoch verschlossen blieben, desto trauriger wurde sie.
Nur dann und wann, wenn sie an spielenden und streitenden, singenden und schreienden, weinenden und lachenden Kindern vorbei kam, huschte noch ein Lächeln über ihr Gesicht und etwas von ihrem einstmaligen Glanz wurde sichtbar.
Die Wahrheit machte sich auf die Suche nach ihren ehemaligen Freunden, nach den Menschen, die sie geliebt hatte. Aber wo sie auch suchte, wo sie auch anklopfte, die Türen und Häuser der Menschen blieben ihr verschlossen.
Sie suchte in den dunklen Straßen, auf abgelegenen Plätzen, in den Palästen der Reichen, ja sogar in den Tempeln und Kirchen der Menschen suchte sie ihren Platz und ihre Bekannten. Aber selbst dort merkte sie meistens, dass sie Unruhe und Ablehnung hervorrief und dass niemand sie zum Bleiben einlud.
Die Wahrheit kam zu dem Schluss, dass sie in der Welt nicht mehr gefragt war, dass niemand sie mehr hören und sehen wollte.
„Wenn mich niemand mehr mag, mich niemand mehr sehen und wenn noch nicht einmall jemand um mich trauern will, so will ich wenigstens um die Menschen trauern, die die Wahrheit nicht mehr erkenne.“, dachte sie sich.
Sie zog ihre Trauerkleider an und setzte sich ein wenig abseits auf die Bank.
Nach einiger Zeit kam das Märchen vorbei. Es war schön und farbefroh gekleidet und war umgeben von dem Glanz des Regenbogens.
„Was ist mit dir?“, fragte das Märchen die Wahrheit. „Warum trägst du Trauerkleider?“
„Ach“, sagte die Wahrheit. Bei meinem Besuch bei den Menschen habe ich festgestellt, dass sie mich nicht mehr mögen, ja, dass sie mich noch nicht einmal mehr kennen lernen wollen. Daher habe ich beschlossen, um die Menschen zu trauern.“
„Das ist schlimm,“ erwiderte das Märchen. “Aber ich habe eine Idee. Komm doch mit mir. Märchen hören die Menschen schon immer gern. Die Kinder werden mit mir groß und selbst Erwachsene können sich meinem Reiz nie ganz entziehen. Und wenn du bei mir bist, dann lernen dich die Menschen vielleicht durch mich neu kennen.“
Seit diesem Tag ziehen das Märchen und die Wahrheit gemeinsam durch die Welt. Und manche Menschen ahnen auch schon, dass die Wahrheit sich als Märchen verkleidet hat, nur um nicht völlig aus der Welt der Menschen verbannt zu werden.