Franz Kafka

Auf dieser Seite findet ihr einige interessante Ausarbeitungen zu Franz Kafka. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei der Roman “Der Prozess”. Mehrere Schüler/innen haben sich intensiv damit auseinander gesetzt und sehr interessante Interpretationsansätze erarbeitet. Es gibt richtige Drehbücher, die auf ganz unterschiedliche Art mit dem Werk umgehen. Außerdem gibt es noch Ausarbeitungen zu Kafkas Erzählungen, Hinweise auf Sekundärliteratur, Verfilmungen etc. Alle Veröffentlichungen, die auf andere Autoren zurück gehen erscheinen selbstverständlich mit deren ausdrücklicher Genehmigung und unter deren Namen.
 

Kurzbiografie:


 

Franz Kafka

In Prag wurde Franz Kafka am 3. Juli 1883 geboren, in Prag verbrachte er auch den größten Teil seines kurzen Lebens. Der 19jährige Student Kafka scherzt seinem Schulfreund und Kommilitonen Oskar Pollak gegenüber:

Prag lässt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muss man sich fügen oder –. An zwei Seiten müssten wir es anzünden, am Vysehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, dass wir loskommen. Vielleicht überlegst Du es Dir bis zum Karneval.

Franz Kafka führte nach seinem Studienabschluss ein denkbar trostloses Dasein als mittlerer Angestellter und Junggeselle, der noch bei seinen Eltern wohnte. Tagsüber saß er sechs Stunden in seinem Büro im vierten Stock der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, verfolgte den Sekundenzeiger der Wanduhr und verfasste irgendwelche Gutachten über die Sicherheit an Arbeitsplätzen, nachmittags legte er sich für ein paar Stunden ins Bett, ruderte, bestellte einen kleinen Garten oder unternahm ausgedehnte Spaziergänge durch die Parkanlagen und Straßen der Stadt, um spätabends bzw. nachts für seine eigentliche Passion gerüstet zu sein: Franz Kafka verstand sich in einem ausschließlichen Sinne als Schriftsteller, sein äußeres Dasein war zielstrebig auf das Schreiben hin ausgerichtet, nur beim Schreiben konnte er sich auf eine zutiefst befriedigende Weise ausleben, alle sonstigen Interessen ordnete er dieser Tätigkeit unter, alles, was ihn am Schreiben behinderte oder auch nur hätte behindern können, empfand er als Bedrohung – und sobald er für kurze Zeit einmal nichts zu Papier gebracht hatte, wurde er depressiv. In einem späten Brief an Max Brod bekennt er:

Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber wofür? In der Nacht war es mir mit der Deutlichkeit kindlichen Anschauungsunterrichtes klar, dass es der Lohn für Teufelsdienst ist. Dieses Hinabgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister, fragwürdige Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt. Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses: in der Nacht, wenn mich die Angst nicht schlafen lässt, kenne ich nur dieses. (3. Juli 1922)

Auch seine Vorbehalte einer Ehe gegenüber rührten zum Teil aus der Furcht, sich auf das Schreiben nicht mehr konzentrieren zu können. Kafka war ein Literatur-Besessener – allerdings aus persönlicher Not heraus.

Innerhalb der Familie galt der skrupelhafte, introvertierte Schriftsteller als Außenseiter, besonders der Vater brachte nicht das geringste Verständnis für die Interessen seines Sohnes auf. Kafka arbeitete auch deshalb vorwiegend in den Nachtstunden, weil er dann endlich seine Ruhe hatte, die Eltern und Geschwister lagen im Bett, sie lärmten oder plauderten nicht mehr, und er konnte sich in das winters beheizte Wohnzimmer setzen. Ein Prosatext aus dem Jahre 1912 (Großer Lärm) beginnt folgendermaßen: »Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung.«

Franz Kafka zog sich im Lauf der Jahre zunehmend in die Literatur zurück. Man könnte sogar sagen: Aus dem engen bürgerlichen Dasein (als eine Metamorphose des Grauens verzerrt nachgestaltet in seiner berühmtesten Erzählung Die Verwandlung, 1915) – Studium, Praktisches Jahr und Anstellung in einer Versicherung – emigrierte der stark angeschlagene, übersensible Mensch Kafka in den Raum der Literatur. Das hing nicht wenig mit dem Vater zusammen, der keine direkte Schuld, aber dennoch großen Anteil an der Misere seines Sohnes hatte: Der Jude Hermann Kafka war ein tüchtiger Geschäftsmann, den das Leben hart gemacht hatte. Er stammte aus denkbar einfachsten ländlichen Verhältnissen, musste schon als Kind im Elternhaus mitarbeiten und Fleischwaren ausliefern, war in seiner Jugend als Händler durch die Dörfer getingelt und hatte es in Prag nach seiner Militärzeit zu bescheidenem Wohlstand gebracht: Gemeinsam mit seiner Frau Julie, geb. Löwy, aus dem vermögenden und gebildeten deutsch-jüdischen Bürgertum stammend, führte er bald einen Kurz- bzw. ›Galanteriewarenladen‹. Den ganzen Tag über standen die Kafkas im Geschäft und verkauften Tücher, Stoffe, Troddeln, Rüschen etc. und saßen abends vielleicht noch beim Kartenspiel zusammen, während die vier Kinder – Franz und seine Schwestern Elli, Valli und Ottla – von einem tschechischen Dienstmädchen versorgt und erzogen wurden. Gleichzeitig war der robuste Hermann Kafka ein rücksichtsloser Tyrann, der seine Angestellten lauthals herumkommandierte und sogar wüst beschimpfte. Den eigenen Kindern hielt er fast täglich vor, dass es ihnen eigentlich viel zu gut ginge, dass sie niemals Not leiden mussten und alles nur ihm zu verdanken hätten. Darüber hinaus hatte er aus persönlichem Stolz heraus eine klare Vorstellung davon, wie gerade sein Sohn hätte beschaffen sein sollen: nämlich aufgeschlossen, hart und arbeitsam – ganz sein Ebenbild. Franz Kafka schrieb in späteren Jahren einen ca. hundertseitigen Brief an den Vater (1919), den er allerdings niemals abgeschickt hat. Darin schildert er aus der – scheinbaren – Distanz von dreißig Jahren sein Kindheits-Trauma: den übermächtigen Vater, der alles kategorisch bestimmte und in jeder Frage von vornherein Recht hatte und den er deshalb grenzenlos bewunderte – der jedoch seine Kinder nur mit abschätziger Ironie behandelte und verächtlich alles abtat, wofür sich Franz begeistern mochte. Das Resultat dieses ungleichen Kampfes bestand darin, dass der ohnehin schüchterne Junge noch weniger aus sich herausging, dass er verstockt wurde und kaum mehr etwas redete. Auch in seiner persönlichen Entwicklung blieb Kafka entscheidend zurück. Vielleicht hängt damit zusammen, dass er zeit seines Lebens das Aussehen eines Jugendlichen hatte.

Der junge Kafka lebte im ständigen Bewusstsein, dass seine Gefühle für andere Menschen, sein Interesse für Literatur, seine Träume vom Leben – überhaupt alle eigenen Ansichten nicht nur falsch und deplaziert waren, sondern dass er sich mit ihnen geradezu schuldig machte, dass er sich gegen den Vater und dessen intakte Welt versündigte. Durch sein gesamtes dichterisches Werk zieht sich diese Thematik des allmächtigen, gottgleichen Vaters bzw. des vatergleichen Potentaten sowie des latenten Schuldbewusstseins dieser düsteren Gestalt gegenüber. Denn aus dieser psychischen Last resultierte auch sein schwieriges Verhältnis den Frauen gegenüber.

Seine intellektuellen Fähigkeiten, sein Interesse für Bücher, sein Urteilsvermögen und seine geistige Unabhängigkeit entwickelten sich dagegen außerordentlich. Kafka durchlief ohne Probleme die fünf Klassen des gefürchteten Altstädter Gymnasiums – nach Aussagen vieler Zeitgenossen eine ledern konservative Bildungsanstalt mit strengem Reglement und starrem Lehrplan: Die Schüler waren in der Hauptsache damit beschäftigt, Vokabeln (Latein- und Griechisch) zu pauken, Verben zu konjugieren, historische Daten (besonders von großen Schlachten) auswendig zu lernen, und eigneten sich eine Menge überflüssiges Wissen an. Unter seinen Mitschülern galt der literarisch ausgerichtete und einzelgängerische Atheist als souverän und distanziert, seine Urteile z.B. über den Prager Schriftsteller Gustav Meyrink und dessen metaphorische Schreibweise waren hart und illusionslos, Kafka wurde sogar als Spötter in religiösen Belangen gefürchtet. Eine rege Freundschaft verband ihn über Jahre mit dem Zionisten Hugo Bergmann, dem späteren Rektor der Hebrew Universitiy von Jerusalem, sowie mit dem vielseitig interessierten Oskar Pollak, der später Kunstgeschichte studierte und schon während seines Studiums als Koryphäe in seinem Fach galt – im Ersten Weltkrieg fand dieser vielversprechende Gelehrte den Tod.

Kafka schrieb sich an der Prager Universität zunächst für Chemie ein – doch für die praktische Arbeit in einem Laboratorium zeigte er sich wenig tauglich und wechselte nach 14 Tagen erst zur Jurisprudenz, dann zur Germanistik und kehrte im dritten Semester enttäuscht zum ›Jus‹ zurück; nebenher hörte der junge Student Vorlesungen in Philosophie, war vorübergehend Mitglied der Prager »Lese- und Redehalle der deutschen Studenten« und hielt sich als stiller Beobachter in diversen Literatencafés auf – u.a. im Café Arco um den jungen Franz Werfel sowie im Café Louvre, wo sich die Anhänger des Philosophen Franz von Brentano versammelten. In diese umtriebige Zeit fallen Kafkas erste längere Prosatexte: eine erste Studie zum späteren Amerika-Roman, die Beschreibung eines Kampfes (1904) und Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (1906) – Texte, die Kafka später für seine Publikationen (Betrachtung, 1912) verwendet hat: Seine Arbeitsweise bestand überhaupt darin, dass er sich mehr oder weniger absichtslos dem Schreiben überließ und später aus dem vorhandenen Material zusammenstellte. Über das Ziel seines Studiums, seine Promotion, äußerte sich Kafka halb belustigt, halb sarkastisch, und er wunderte sich im nachhinein, dass er die Prüfungen überhaupt bestanden hatte. Der Spott über das trockene, sinnleere Rechts- und Advokatenwesen schwingt noch in Kafkas beiden großen Romanfragmenten Das Schloss (ab 1914) und Der Prozess (erste Entwürfe 1914, Niederschrift ab 1922) mit. Bezeichnenderweise war der Doktor der Rechte für 15 Jahre – bis zu seiner Pensionierung – nacheinander in den Assicurazioni Generali sowie der oben bereits erwähnten Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt tätig: Er arbeitete sich vom »Aushilfsbeamten« und »Anstaltsconcipisten« bis zum »Obersekretär« mit 30 Untergebenen empor – was er nicht zuletzt wegen seiner Formulierungsgabe und juristischen Vorbildung zustande brachte.

Zeit seines Lebens behielt Kafka ein tiefes Gefühl des eigenen persönlichen Unwerts, und ebenso abschätzig dachte er über seine laufende schriftstellerische Produktion. Bei Durchsicht seiner Papiere zu Amerika bzw. Der Verschollene las er

[…] zuerst mit gleichgültigem Vertrauen, als wüsste ich aus der Erinnerung genau die Reihenfolge des Guten, Halbguten und Schlechten darin, wurde aber immer erstaunter und kam endlich zu der unwiderlegbaren Überzeugung, dass als Ganzes nur das erste Kapitel aus innerer Wahrheit herkommt, während alles andere, mit Ausnahme einzelner kleinerer und größerer Stellen natürlich, gleichsam in Erinnerung an ein großes aber durchaus abwesendes Gefühl hingeschrieben und daher zu verwerfen ist, d.h. von den 400 großen Heftseiten nur 56 (glaube ich) übrig bleiben. (Brief an Felice, 9./10. März 1913)

Seine übertriebene Skrupelhaftigkeit führte dahin, dass er im Alter von 25 Jahren noch keine Zeile veröffentlicht hatte, während viele seiner Zeitgenossen schon in der Schulzeit erste Gedichte und Erzählungen publizierten und ihre Schreiberei zur Schau stellten.

Nachdem er sich 1905 endlich dazu durchringen konnte, Max Brod das Manuskript der Beschreibung eines Kampfes zum Lesen zu geben, brach dieser in Begeisterung aus, lobte in einem Zeitungsartikel den noch völlig unbekannten Franz Kafka als einen der hoffnungsvollen jungen Schriftsteller und brachte seinen Schützling mit dem Literaten und Herausgeber Franz Blei zusammen, in dessen Zeitschrift Hyperion – gleich in der ersten Ausgabe und neben Rilke, Hofmannsthal und Heinrich Mann – Kafkas erste Texte (die er später in den Erzählband Betrachtung aufnahm) gedruckt wurden. Max Brod stellte 1912 auch den Kontakt mit dem Verleger Kurt Wolff her, der sich von Kafkas Texten beeindruckt zeigte. Allerdings zog sich die Publikation seiner Werke – Betrachtung (1912), Der Heizer (1913), Die Verwandlung (1915), Das Urteil (1916), In der Strafkolonie (1919), Ein Landarzt (1920), Ein Hungerkünstler (1924) – schleppend hin: Wolff zögerte und suchte nach einer Möglichkeit, Kafkas schwierige Texte irgendwie mit Gewinn auf den Markt zu bringen; der unsichere Kafka wiederum drängte nicht sonderlich auf eine Beschleunigung seiner Angelegenheiten. Daran konnten auch seine engsten Freunde nicht viel ändern: Ihren Zusprüchen und Ermunterungen stand er freundlich, aber skeptisch gegenüber, ihren positiven Kritiken misstraute er hartnäckig, an seinen Fähigkeiten zweifelte er dermaßen, dass er das Lob seiner Freunde eben ihrer Freundschaft zugute schrieb. Und diese Selbstzweifel waren auch ein Grund dafür, weshalb seine drei Versuche scheiterten, eine eigene Familie zu gründen.

Familie und Kinder betrachtete Kafka als eines der höchsten Güter. Doch für seine eigene Person glaubte er, dieses bürgerliche Glück ausschließen zu müssen. Gleichwohl hat er sich – nach jeweils heftigen inneren Kämpfen – dreimal verlobt und nach einer kurzen Spanne jedes Mal die Verlobung wieder aufgelöst: zweimal mit Felice Bauer, einmal mit Julie Wohrycek. Zwischendurch gab es allerdings noch zwei kleinere Affären und eine heimliche Geschichte mit Grete Bloch, einer Freundin von Felice, aus der sogar – nach Aussagen Grete Blochs und ohne Kafkas Wissen – ein Sohn hervorging, der jedoch nach sieben Jahren verstarb.

Felice Bauer (geb. 1887) – Tochter eines Versicherungsagenten – war den Zeugnissen nach eine unkomplizierte, lebenslustige und praktisch veranlagte junge Frau, die mit ihren Eltern in Berlin lebte. Als Kafka sie 1912 auf einer Gesellschaft bei Max Brod kennen lernte, arbeitete sie gerade als Prokuristin in einer Firma, die Diktiergeräte und sogenannte ›Parlographen‹ herstellte. Zwischen den beiden auch äußerlich grundverschiedenen Menschen entspannte sich binnen weniger Wochen ein exorbitanter Briefwechsel, der mit kurzen Unterbrechungen fünfeinhalb Jahre anhielt und dessen eine – Kafkasche – Hälfte uns erhalten geblieben ist. Felice Bauer hatte offenbar wenig Sinn für die Skrupel und literarischen Ambitionen ihres Briefpartners, was Kafka nicht davon abhalten sollte, ihr alle diese Skrupel und Pläne minutiös auseinander zu legen. Bald wurden sie vertraut miteinander, doch eigentlich niemals intim, auch als sie schon ein Paar waren. Das lag wesentlich daran, dass sich diese (Liebes-) Geschichte fast ausschließlich auf dem Papier abspielte – Kafka schickte mitunter dreimal täglich einen Brief oder eine Karte los, ohne die Antworten abzuwarten. Gesehen haben sich die beiden Liebesleute bloß ein paar Mal in Berlin, in Prag, in der Böhmischen Schweiz und während eines kurzen gemeinsamen Aufenthaltes in Marienbad; körperlichen Kontakt dürften sie wohl so gut wie keinen miteinander gehabt haben – am 6. Juli 1916 notierte Kafka in sein Tagebuch: »Arme F. […]. Unglückliche Nacht. Unmöglichkeit, mit F. zu leben. Unerträglichkeit des Zusammenlebens mit irgend jemandem. vage Illusion eines Menschen, an den er sich regelmäßig schriftlich wenden konnte. Was er an Felice bewunderte, waren ihre Geduld, ihre Güte und Stärke, ihre Gesundheit und praktische Veranlagung, doch eigentlich fand er sie unerotisch – er zog es daher vor, in zahllosen, teils episch angelegten Briefen zu schmachten, zu jammern, zu säuseln oder sich zu rechtfertigen, er räsonnierte über die gemeinsame Zukunft und setzte immer wieder seine eigene Person herab.

Fast ein ganzes Jahr vor der ersten Verlobung richtete sich Kafka brieflich an Felices Vater, Herrn Carl Bauer: Von Hochzeit usw. muß bereits die Rede gewesen sein, er stellte sich nochmals offiziell vor und suchte nicht etwa um die Hand der Tochter an, sondern breitete sich vielmehr über die Gründe aus, weshalb es zu dieser Verbindung niemals kommen sollte – er sei von der Literatur besessen und würde Felice unglücklich machen:

Sie soll es ertragen, ein klösterliches Leben neben einem Mann zu führen, der sie zwar lieb hat, wie er niemals einen andern lieb haben kann, der aber kraft seiner unabänderlichen Bestimmung die meiste Zeit in seinem Zimmer steckt oder gar allein herumwandert? Sie soll es ertragen, gänzlich abgetrennt von ihren Eltern und Verwandten und fast von jedem andern Verkehr hinzuleben, denn anders könnte ich, der ich meine Wohnung selbst vor meinem besten Freunde am liebsten zusperren würde, ein eheliches Zusammenleben mir gar nicht denken.

Ende Mai 1914 kam es trotzdem zur Verlobungsfeier in Berlin, eine Woche später, am 6. Juni, notierte ein hörbar niedergeschlagener Franz Kafka in sein Tagebuch:

Aus Berlin zurück. War gebunden wie ein Verbrecher. Hätte man mich mit wirklichen Ketten in einen Winkel gesetzt und Gendarmen vor mich gestellt und mich nur auf diese Weise zuschauen lassen, es wäre nicht ärger gewesen. Und das war meine Verlobung, und alle bemühten sich, mich zum Lachen zu bringen, und da es nicht gelang, mich zu dulden, wie ich war.

Einen Monat später löste er die Verlobung folgerichtig wieder auf. Anschließend stockte der Briefwechsel für ein paar Monate, doch kam es bald zu einer neuen Annäherung – Felice scheint bis zuletzt, bis zur Diagnose der Krankheit, auf ein Zusammenleben mit Kafka gehofft zu haben. Im Juli 1917 kam es zur zweiten Verlobung, die nach zwei Monaten ebenfalls wieder aufgelöst wurde. Im September stellten die Ärzte an seiner Lunge eine Tuberkulose fest – für Kafka ein idealer Vorwand, sich ein weiteres Mal zurückzuziehen. An Felice schrieb er nachts vom 30. 9. zum 1. 10. 1917:

Im übrigen sage ich Dir ein Geheimnis, an das ich augenblicklich selbst gar nicht glaube […], das aber doch wahr sein muss: ich werde nicht mehr gesund werden. Eben weil es keine Tuberkulose ist, die man in den Liegestuhl legt und gesund pflegt, sondern eine Waffe, deren äußerste Notwendigkeit bleibt, solange ich am Leben bleibe. Und beide können nicht am Leben bleiben.

Kafka und Felice trennten sich endgültig voneinander – Kafka mit dem Vorsatz, sich an keine Frau mehr binden zu wollen – ohne Erfolg. Felice Bauer heiratete 1918 einen wohlhabenden Berliner Geschäftsmann und wanderte in den 30er Jahren über die Schweiz in die Vereinigten Staaten aus, wo sie 1960 verstarb.

Im Herbst 1918 wollte sich Kafka für ein paar Monate in Schelesen, einem kleinen Ort nördlich von Prag, erholen und lernte dort Julie Wohrycek, eine junge Prager Jüdin, kennen. Ihre Begegnungen kamen anfangs über ein verlegenes, zwanghaftes Lachen und Kichern auf beiden Seiten kaum hinaus, und sie trennten sich zunächst wieder – Kafka noch seines Vorsatzes in Bezug auf Frauen eingedenk. Doch in Prag trafen sich die beiden wieder und verliebten sich leidenschaftlich – es kam 1919 zu einer fast heimlichen Verlobung mit auf dem Fuße folgender Auflösung derselben; Kafka entschuldigte sich und war doch in Gedanken schon bei der leicht exzentrischen Milena Jesenská, seiner Übersetzerin, Freundin und zweiten großen Briefpartnerin.

Milena Jesenská stammte aus Prag und lebte damals in Wien; sie führte mit dem Prager Bohemien und notorischen Sexprotz Ernst Polak eine unglückliche Künstlerehe; ihr Mann betrog sie bei jeder Gelegenheit, ihr Vater hatte sie wegen dieser Verbindung mit einem jüdischen Habenichts schon enterbt, und sie versuchte, mit Zeitungsartikeln und Übersetzungen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. An Kafka wandte sie sich mit der Bitte, seine Werke ins Tschechische übersetzen zu dürfen; zahlreiche Briefe wechselten hin und her, bis der scheue Kafka und die impulsive Milena sich persönlich füreinander zu interessieren begannen. Doch Kafka zögerte noch, sich mit der jungen Frau zu treffen, er hatte auch völlig grundlos ein schlechtes Gewissen ihrem Gatten gegenüber – grundlos schon deshalb, weil sich niemals das Geringste zwischen ihnen abgespielt hat. Schließlich verbrachten Milena und er doch ein paar unbeschwerte Tage in Wien. An Max Brod berichtete Milena später, sie habe es fertiggebracht, Kafka für Augenblicke seine Angst vor den Dingen des Lebens zu nehmen.

Angesichts seiner schweren Lungen- und Kehlkopftuberkulose zeigte sich der sonst ängstliche Kafka nicht übermäßig betroffen. Vielmehr schien er so etwas geahnt zu haben, es musste so kommen, am Ende stand keine Genesung, sondern nur der Tod – Kafka schaute seinem Ableben ruhig, fast stoisch entgegen. Noch ein halbes Jahr vor seinem Ende (1924) schrieb der inzwischen frühpensionierte und von den Ärzten aufgegebene Dichter an der humorvollen, essayistischen Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse – ein Text, der sich wunderbar versponnen um die Definition seines Gegenstandes bemüht: eine egozentrische Sängerin, die sich für eine große Diva hält, im Grunde aber gar nicht singen, sondern nur – ganz ordinär – pfeifen kann und von der Bevölkerung bewundert wird, obwohl oder gerade weil ihr das Publikum nicht richtig zuhört und heute niemand mehr etwas von Gesang versteht – was Josefine zu ahnen scheint … Diesen in jeder Zeile lustvoll-geistreichen Text über das aberwitzige Verhältnis zwischen Kunst, Künstler und Publikum hat ein sterbenskranker Dichter verfasst, dessen Lebenswerk zum Großteil aus unveröffentlichten Roman-Fragmenten und Erzählungen bestand, die er sämtlich durch Max Brod verbrennen lassen wollte.

Sein ungehorsam treuer Freund führte diesen Wunsch jedoch nicht aus.

Für die letzten, äußerlich noch um vieles glanzloseren Monate seines Lebens fand Kafka in dem ostjüdischen Mädchen Dora Diamant eine Gefährtin, die sich vorbehaltlos um seine Bedürfnisse kümmerte und ihn zur Ruhe kommen ließ. Kafka verwirklichte endlich seinen Traum, Prag zu verlassen: Die beiden mieteten eine kleine Wohnung im Berliner Stadtteil Steglitz, lebten aus der Hand in den Mund und machten Pläne. Mit Dora studierte Kafka die Thora und den Talmud, und beide träumten davon, in Tel Aviv ein kleines Restaurant aufzumachen: Die in häuslichen Dingen unerfahrene Dora sollte in der Küche stehen, der linkische, lungenkranke Kafka die Gäste bedienen. Daraus wurde jedoch nichts. Nicht zuletzt aufgrund der schlechten Ernährung im Inflationswinter verschlechterte sich Kafkas gesundheitlicher Zustand rapide, er musste in ein Sanatorium gebracht werden, doch es bestand schon keine Hoffnung mehr.

In den letzten Wochen vor seinem Tod konnte Kafka oft weder Nahrung aufnehmen noch sprechen. Er führte Konversationshefte, las Korrekturfahnen für seine letzte Publikation (Ein Hungerkünstler) und beobachtete den Fortgang der Krankheit.

Am 3. Juni 1924 ist Franz Kafka gestorben.

Sven Precht
 

Franz Kafka: Zum Autor. In: Bibliothek X·libris: Franz Kafka, CD-ROM. München 1996. Seite 2 – 22