Die Frage nach Gott
Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: “Ich rate dir nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott”.
(Bertolt Brecht, Geschichten von Herrn Keuner)
Gottesbeweis nach Pascal (sinngemäß):
Der Einsatz des Spieles ist endlich, nämlich an Gott zu glauben. Der mögliche Gewinn ist unendlich, nämlich das Paradies. Wenn nun die Gewinnwahrscheinlichkeit endlich ist, d.h., die Wahrscheinlichkeit, dass Gott existiert, nicht 0 ist (auch wenn sie noch so klein ist), dann lohnt es sich, mitzuspielen.
Die beiden Brüder
Zwei Brüder wohnten einst auf dem Berg Morija. Der jüngere war verheiratet und hatte Kinder, der ältere war unverheiratet und allein. Die beiden Brüder arbeiteten zusammen, sie pflügten das Feld zusammen und streuten zusammen den Samen aus. Zur Zeit der Ernte brachten sie das Getreide ein und teilten die Garben in zwei gleich große Stöße, für jeden einen Stoß Garben. Als es Nacht geworden war, legte sich jeder der beiden Brüder bei seinen Garben nieder, um zu schlafen. Der ältere aber konnte keine Ruhe finden und sprach in seinem Herzen: »Mein Bruder hat eine Familie, ich dagegen bin allein und ohne Kinder, und doch habe ich gleich viele Garben genommen wie er. Das ist nicht recht.- Er stand auf, nahm von seinen Garben und schichtete sie heimlich und leise zu den Garben seines Bruders. Dann legte er sich wieder hin und schlief ein.
In der gleichen Nacht nun, geraume Zeit später, erwachte der jüngere. Auch er musste an seinen Bruder denken und sprach in seinem Herzen: »Mein Bruder ist allein und hat keine Kinder. Wer wird in seinen alten Tagen für ihn sorgen?« Und er stand auf, nahm von seinen Garben und trug sie heimlich und leise hinüber zum Stoß des Älteren.
Als es Tag wurde, erhoben sich die beiden Brüder, und wie war jeder erstaunt, dass ihre Garbenstöße die gleichen waren wie am Abend zuvor. Aber keiner sagte dem anderen ein Wort. In der zweiten Nacht wartete jeder ein Weilchen, bis er den anderen schlafend wähnte. Dann erhoben sie sich, und jeder nahm von seinen Garben, um sie zum Stoß des anderen zu tragen. Auf halbem Weg trafen sie plötzlich aufeinander, und jeder erkannte, wie gut es der andere mit ihm meinte. Da ließen sie ihre Garben fallen und umarmten einander in herzlicher brüderlicher Liebe. Gott im Himmel aber schaute auf sie hernieder und sprach: »Heilig, heilig sei dieser Ort. Hier will ich unter den Menschen wohnen.«
Ohne Gott ist alles erlaubt
Ob Günter Verheugen mit seinem Reden über Gott dem Bild entspricht, das sich Wähler vom unabhängigen Gewissen eines Abgeordneten machen? Seine persönliche Ansicht, Gott habe im Grundgesetz nichts zu suchen, mag noch aus der Mitgift der FDP an ihren früheren Generalsekretär stammen. Aber als Bundesgeschäftsführer der SPD, der er nun ist, will Verheugen offenbar berücksichtigen, dass die SPD mit der evangelischen Kirche freundschaftlich verbunden ist und dass sie die katholische Kirche nicht reizen möchte – schon gar nicht im Jahr der Wahlen. Verheugen korrigierte sich, die SPD wolle die Berufung auf Gott in der Präambel des Grundgesetzes beibehalten, und dafür werde er auch im Bundestag stimmen, “weil ich dort die Politik der SPD und nicht meine Privatmeinung zu vertreten habe”. Wirklich?
Der Gottesbezug ist der Anker nicht nur der Verfassung, sondern auch allen Sinns, jeder Moral. Als Nietzsche schrieb: “Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!”, wusste er, “was alles … nunmehr einfallen muss … : zum Beispiel unsre ganze europäische Moral”. Gibt es ohne einen Gott die Unterscheidung von Gut und Böse? Wozu Moral, wenn Leben, Natur, Geschichte “unmoralisch” sind? Leszek Kolakowski hat Dostojewskis Werk auf den Nenner gebracht: “Falls es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt”, und er hat in seinem nach dieser Sentenz titulierten Buch hinzugefügt, das sei nicht nur als moralische Regel gültig, sondern auch als erkenntnistheoretisches Prinzip. Gibt es überhaupt Wahrheit, wenn Gott nicht die Wahrheit und die Wahrheit nicht göttlich ist? “Was taten wir”, fragt Nietzsche, “als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? … Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?”
Nietzsche nahm sich in seiner “Fröhlichen Wissenschaft” die Freiheit heraus, “selbst an den Abgründen noch zu tanzen”: an den Abgründen des Nichts, der Verzweiflung und des Wahnsinns. Ohne Sicherheit und Illu¬sionen wollte er Sinn durch bloßen menschlichen Willensakt setzen, wollte er über die göttliche Leere durch schöpferische Taten triumphieren. Dabei glaubte er an die Vernunft, die menschliche Würde – auch das ein Glaube nur. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben gelehrt, wohin es führen kann (führen muss?), wenn Menschen sich an die Stelle Gottes erheben und dekretieren, was Moral sei. Ausdrücklich heißt es in der Präambel der bayerischen Verfassung von 1946: “Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes zu sichern…” Im Vergleich dazu fasst sich das Grundgesetz kurz: “lm Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat das deutsche Volk…” Weil die Anrufung Gottes verhindert, dass ein endlicher Moralismus zur Staatsmoral verabsolutiert wird, enthält sie auch eine Freiheitsgarantie für Nichtgläubige. Der Gottesbezug macht bescheiden: Der Mensch ist fehlbar seine Werke sind unvollkommen, und auch das Recht des Staates ist nur etwas “Vorletztes”.
Allerdings gab es schon 1945 regionale und parteipolitische Nuancen und Differenzen. Präambeln besitzen nur sechs von elf Verfassungen der alten Länder; in vieren wird Gott angerufen. Durch die Wiedervereinigung haben sich die Spannungen verschärft. In den alten Ländern glauben immerhin 70 Prozent an Gott (wie immer der aussehen mag), in den neuen nur 32 Prozent. In nichts unterscheiden sich West und Ost so stark wie im Grad der Säkularisierung. Trotzdem besitzen vier von fünf Verfassungen der neuen Länder eine Präambel, zwei davon (Sachsen-Anhalt und Thüringen) rufen Gott an, eine (Sachsen) will die Schöpfung bewahren; diese grüne Kompromissformel verschleiert, dass eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht vorstellbar ist.
Wieder ist es die Ernüchterung, die den Verfassungsvätern die Feder geführt hat: “Im Bewusstsein der Verantwortung aus der deutschen Geschichte” (Mecklenburg-Vorpommern, allerdings ohne Gottesbezug) und “ausgehend von den leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft, eingedenk eigener Schuld in der Vergangenheit” (Sachsen). Daher wird der Gottesbezug auch in der Präambel des Grundgesetzes bleiben. Die Skeptiker wissen nämlich so gut wie die Christen, wie stark die Religion dem diesseitigen Leben nützt: Der Glaube begründet sittliche Werte, er weckt Hilfsbereitschaft, stärkt das Gemeinschaftsgefühl, schenkt Geborgenheit, schafft Sinn. Umgekehrt sind sich Christen mit Skeptikern darin einig, dass diese späte Vernunfteinsicht den Glauben nicht wiederherstellt. Paul Tillich hatte recht: Man kann die Mutter nicht vom Sohn her schaffen, den Vater nicht aus dem Nichts rufen.
Dabei ist die Warnung, dass ohne Gott alles erlaubt sei, notwendiger denn je. Der Mensch experimentiert mit sich selbst: Frauen tragen noch im hohen Alter, nach der natürlichen Gebärfähigkeit, Kinder aus; man kann das Geschlecht der Kinder bestimmen, indem man für künstliche Befruchtungen die Samenzellen auswählt; ja, man kann menschliche Embryonen klonen, also lebende Abziehbilder herstellen und damit bestimmte Individuen in Serie züchten. Die Reproduzierbarkeit des Menschen zieht unsere Vorstellungen von der unverwechselbaren Person in Zweifel und damit auch den Glauben an die persönliche Beziehung zwischen Gott und Mensch. Wie soll das enden? Wo ist oben, wo unten?