Jesus: Wundertäter oder Zauberer?
1. Die historische Frage: die Wunder Jesu
Die Evangelisten haben die Wunder Jesu nicht erfunden, denn die ältesten Quellen über Jesu Leben berichten immer wieder von seinen Wundern, die er gewirkt hat. Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen müssen aber immer im Zusammenhang mit der Predigt Jesu vom Königtum Gottes (Gottesreich) gesehen werden: Mt 12, 28: „Wenn ich Dämonen austreibe, so ist das Königtum Gottes mitten unter euch angebrochen”. Die Traditionen überliefern auch konkrete Namen, derer, die von Jesus geheilt worden sind: z.B. die Schwiegermutter des Petrus, der blinde Bartimaios usw. In den christliche Gemeinden galten diese Personen als der lebendige Beweis für die Taten Jesu. manche Heilungen standen auch im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen mit den Schriftgelehrten und Tempelpriestern (z.B. die Heilung eines Gelähmten am Sabbat, die Heilung Aussätziger …). In beiden Fällen verstieß Jesus gegen die strenge Auslegung der religiösen Gesetze, denn am Sabbat durfte man nicht heilen und die Berührung Aussätziger war grundsätzlich verboten (Siehe auch das Samaritergleichnis). Von jüdischer Seite wurden die Wunder Jesu niemals bestritten, war doch von vielen Rabbinen bekannt, dass sie über therapeutische Kräfte verfügten. In der Zeit der ersten Christengemeinden war es nicht so wichtig, dass Jesus Wunder gewirkt hatte, sondern darum, wie diese zu deuten seien (z.B. als Werke des Messias). Die Quantität und Verschiedenheit (Krankenheilungen, Exorzismen, Totenerweckungen, Naturwunder) der überlieferten Wundererzählungen kann als Beweis herangezogen werden, dass dieser Jesus aus Nazareth über außergewöhnliche Gaben verfügt hatte. Ob es sich dabei um eine Durchbrechung der Naturgesetze gehandelt hat, liegt nicht im Interesse der biblischen Autoren. Für den Glauben an Jesus kommt es nicht darauf an, ob die Wunder historisch beweisbar sind, sondern welche Auswirkungen sie auf das Verhältnis Gott – Mensch haben, wie es um die Menschen bestellt ist, die ihren letzten Mut in all ihrem Leiden zusammennehmen und sich von Jesus Alles erhoffen, ob Menschen nach ihrer Heilung wieder Vertrauen zur Fülle des Lebens und aller Möglichkeiten der Schöpfung haben.
2. Die literarische Frage: die Wunderberichte der Evangelien
Ohne die tatsächlichen Ereignisse hätten die Evangelisten keine Wunderberichte verfassen können. Die Ereignisse sind das Fundament für die überlieferten Texte, was aber nicht gleichzeitig heißen muss, dass sich die Wunder exakt so ereignet haben, wie sie literarisch ihren Niederschlag gefunden haben. Wir müssen strikt zwischen dem Wunder und dem Wunderbericht unterscheiden. das erste ist ein Geschehen und gehört der Geschichte an. Das zweite ist eine Erzählung von dem Ereignis und gehört als ein Werk des Erzählers der Literatur an. In einer Erzählung wird der Vorgang seltenst so beschrieben, wie er sich zugetragen hat.. Immer gehen auch die Lebensumstände, der Horizont, die Sprache und das Weltbild des Autors mit ein. Jede Erzählung ist damit gleichzeitig auch Auslegung. Sie zeigt den Vorgang in einem bestimmten Licht und wie bei den ntl. Wundern sind die Erinnerung an Geschehenes und die Deutung aus dem Glauben heraus nie eindeutig voneinander zu trennen. Die Wunder Jesu standen von Anfang an auch im Dienst der Glaubensverkündigung der frühen Kirche. Die Ereignisse wurden immer aus der Sichtweise des an Ostern von den Toten auferstandenen Jesus interpretiert. Schon zu Lebzeiten wird Jesus als der Messias und Gottessohn dargestellt. Dieser Glaube und die individuellen Sichtweisen der Evangelisten haben die Wunderberichte je verschieden geprägt und gefärbt. In manchen Texten steht die theologische Aussage (Jesus ist der Sohn Gottes) im Vordergrund, in andren nur das historische Geschehen. Besonders die sog. Naturwunder (Speisung der 5000, Seewandel usw.) sind ganz stark aus der Sicht der frühen Christengemeinde geprägt. Wer sich auf die Aussagen der Wunderberichte einlässt, sollte keine hochwissenschaftliche Textanalyse als Ausgangsplattform benutzen, sondern muss die Aussage dieser Berichte auf sich wirken lassen, um zu begreifen, was sie den Lesern sagen wollen
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Aufbau der Wunderberichte:
viele Wundererzählungen sind nach einem bestimmten Schema aufgebaut:
A. Einleitung: Schilderung der Krankheit, Dauer, Größe, Art – Begegnung
B. Hauptteil: Wort oder Tat Jesu (Berührung, Speichel …) bringen Heilung
C. Schluss: Beweis der Heilung, Reaktion von Zeugen, oft Schweigegebot
Dieses Schema legt sich vom Geschehen her nahe und hat auch eine theologischen Sinn: Die Einleitung zeigt Menschen in ihrer Not, Blinde, Lahme, Besessene, Witwen, Blutflüssige, verzweifelte Väter, Hautkranke. Details und Ausschmückungen sind nicht notwendig. Jesus schenkt im Hauptteil Rettung. Er heilt und vergibt oft auch Schuld. Dies alles geschieht in einem einfachen Wort oder einer schlichten Handlung. Nichts lässt an Zauber oder Mirakel denken, Jesus und der Kranke stehen völlig im Zentrum.
Im Schlussteil werden die Zuschauer, bzw. die Leser angesprochen. sie werden zur Entscheidung für den Glauben an Gott aufgerufen, von ihrem Gottvertrauen hängt alles Wesentliche ab. Jesus entlässt sehr häufig die Geheilten mit den Worten : „Geh, dein Glaube, dein Vertrauen in mich und Gott haben dich gerettet“.
3. Die theologische Frage: die Wunder und der Glaube
a) Missverständnisse: Die Evangelien berichten und betonen, dass die Wunder Jesu auf den Glauben zielen. Dabei muss sich der heutige Leser vor zwei Missverständnissen hüten:
1. Die Wunder Jesu sind kein unwiderleglicher Beweis dafür, dass Jesus der Sohn Gottes sei. Nach biblischem Verständnis waren Wunder nicht so ungewöhnlich, dass sie nur von Gott gewirkt werden können. Moses, den Propheten und den Aposteln werden Wunder zugeschrieben. Sogar der Satan und der Antichrist werden mit Wundermacht in Zusammenhang gebracht. Das heißt, dass auch manche Zeitgenossen Jesu Wundertaten nicht als das Werk Gottes, sondern als das Wirken von Dämonen interpretiert haben. Jesus selbst hat seine Machttaten nie als Beweis für seine Messianität oder Gottessohnschaft angesehen. So oft er auch aufgefordert wurde, ein Wunder zu wirken, um sich und seine Sendung zu legitimieren, lehnte er dies strikt und mit barschen Worten ab. Wo Jesus keinen Glauben als Vertrauen in das Wirken Gottes findet, will und kann er keine Wunder wirken.
2. Glaube und Vertrauen, die die Wunderberichte fordern, bestehen nicht in der ÜÜberzeugung, dass alle Wunder genauso geschehen sind, wie sie in den Evangelien dargestellt werden. Glauben heißt nicht, die Wunderberichte in allen Details strikt für wahr zu halten. Die literarische und theologische Eigenheit der Texte verbietet geradezu eine solche Annahme.
b) Die Wunder als Machttaten Gottes und Zeichen
Jesus selbst hat seine Wunder als Zeichen des heranbrechenden Königtums gedeutet. So wie die Gleichnisse (z.B. Senfkorn) in seiner Predigt, wollen die Wunder im Handeln Jesu das zeitliche Anbrechen dieses Königtums verdeutlichen. Der gottgewollte Zustand der Schöpfung wird in den Wundern sichtbar. Was am Anfang der Zeiten (Paradies) war und am Ende der Geschichte wieder sein wird (Eschaton), das bricht in Jesu Machttaten in die Gegenwart herein. In den Dämonen wird das Böse überwunden, Menschen werden von ihrem Leiden erlöst, Hungrige werden gesättigt und der Tod wird besiegt. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass Jesus Krankheiten nicht im Sinn einer technischen Apparate-Medizin heilt, sondern sich auf das Leiden des Kranken konzentriert. Als Krankheit wird jede Störung der Funktion biologischer oder psychologischer Prozesse bezeichnet. Als Leiden wird dagegen die psychosoziale Erfahrung und Bedeutung der wahrgenommenen Krankheit erfahren. Zum Leiden zählen sekundäre persönliche und soziale Reaktionen auf die primäre Funktionsstörung (Krankheit), die Körper und Seele betreffen. Der Aussätzige, der Jesus begegnet, hat eine Krankheit (Schuppenflechte) und ein Leiden (persönliche und soziale Unreinheit, Isolierung, Ausgestoßensein). Heilt nun Jesus eine Krankheit durch Eingriffe in die physische Natur oder heilt er ein Leiden durch einen Eingriff in die soziale Welt? Jesus tellt den Kranken in seinem Status wieder so her, wie Gott die Menschen in seiner Schöpfung wollte: als Töchter und Söhne der Freiheit, als Teilhaber in seinem Königtum, ausgestattet mit unvergleichlicher Würde, den Atem der Ewigkeit und die Sehnsucht der Liebe in ihren Herzen. Aber all das ist noch nicht in ewiger Vollendung da. Krankheiten, Hunger und Tod sind in dieser Welt noch vorhanden (eschatologischer Vorbehalt). Aber die Wunder Jesu sind Zeichen dafür, dass das Leiden besiegbar ist, sie sind somit eschatologische (endzeitliche) Zeichen.
Für die Menschen, die ihr Vertrauen darin gründen, dass Gott es mit dieser Schöpfung gut gemeint hat und dass mit dem Tod nicht das letzte Wort gesprochen ist, bedeuten die Wunder Jesu aber auch aktives Handeln. Aus der Botschaft der Wunder erwächst die Aufgabe im Sinn Jesu an der Beseitigung des Leidens in der Welt mitzuarbeiten. Die Wunderberichte sind darum nicht erbauliche Erzählungen aus vergangenen Zeiten, sondern rufen überall dort zu Verantwortung und Mitmenschlichkeit in dieser Welt auf, wo Armut, Hunger, Not, Schuld, Leiden und Grausamkeit anzutreffen sind.
Nach W. Trutwin, Evangelium Jesu Christi, mit zum Teil wörtlich zitierten Auszügen