Der folgende Text wurde mir freundlicherweise von der GEO-Redaktion zur Verfügung gestellt. Er erschien in der GEO-Ausgabe 1/2004. Seit langem habe ich keinen Artikel mehr gefunden, der auf so anschauliche und historisch überzeugende Weise die Vorgänge und Umstände zur Zeit Jesu dargestellt hat. Es geht hierbei weder um ein Glaubenszeugnis, das aus der Sicht der Christen Jesus als Sohn Gottes bezeugen will, noch um eine parteiisch-ablehnende Darstellung, so wie sie alljährlich im STERN oder Spiegel zur Oster- oder Weihnachtszeit zu finden sind. Deshalb sei all jenen, die sich interessiert über die Vorgänge im besetzten römischen Protektorat Judäa im Nissan, etwa um die Zeit des Jahres 30, informieren wollen, der folgende Artikel empfohlen.
Wer war Jesus?
Um das Jahr 30 predigt in einem entlegenen Winkel des Römischen Reiches ein Mann, der eine Weltreligion begründet: Jesus von Nazareth. Auf seine Lehre, seine Gebote, sein Ethos berufen sich seither alle Christen. Doch kann man, nach fast zwei Jahrtausenden, noch etwas über den Menschen erfahren, der dies bewirkte? Wie hat er gelebt? Wo hat er gewirkt? Weshalb wurde er gekreuzigt? Archäologen, Philologen, Theologen und Althistoriker haben sich auf die Spuren des Nazareners gemacht und zeichnen ein überraschendes Bild von Jesus und seiner Zeit.
Pontius Pilatus, der römische Präfekt Judäas, will kein Risiko eingehen. Die Lage in Jerusalem ist angespannt; die Soldaten Roms haben deshalb alle strategischen Positionen besetzt, vor allem an den Stadttoren und in der Festung Antonia oberhalb des Tempelberges.
Doch die Stadt ist schwer zu kontrollieren. Rund um das Plateau des noch unvollendeten Tempels erstrecken sich über Hügel und Täler flache, zumeist zweigeschossige Häuser. Dazwischen ein Gewirr aus Gassen, Plätzen, schmalen Durchlässen. Rund 40 000 Menschen leben hier normalerweise, doch nun drängen sich fast viermal so viele durch die Stadt. Das Passahfest naht, eine der wichtigsten religiösen Feiern im Jahr.
Aus Jodefat und aus Gamla auf dem Golan kommen die Pilger, aus Kapernaum und Nazareth in Galiläa, aus Jericho, aus Alexandria, Griechenland und Rom. Hunderte, die zu Fuß aus Galiläa gekommen sind, waschen den Staub der Wege im Schiloach-Teich ab, andere suchen Gasthäuser für die nächsten Nächte. Manche Juden der Diaspora haben sich zusammengeschlossen und unterhalten eigene Herbergen – die jüdische Gemeinde von Rhodos etwa.
Seit zwei Wochen haben Händler im Vorhof des Tempels ihre Stände zum Markt aufgebaut. Auch auf den anderen Märkten der Stadt werden Getreide, Vieh, Früchte und Holz angeboten. Aus der Oberstadt – jenem Hügel westlich des Tempelberges, wo die Priester und Adeligen residieren – weht der Duft aus der Spezerei-Manufaktur der Priesterfamilie Kathros herüber.
Doch hinter der Ausgelassenheit lauert die Rebellion. Wird das Passahfest nicht zum Gedenken an die Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft begangen? Und ächzt dieses Volk nicht seit Jahrzehnten unter dem römischen Joch? Eine religiös erregte Menge, verhasste Besatzungstruppen, ein heiliger Tag, eine unübersichtliche Stadt – es fehlt nur noch ein Funke, um den Flächenbrand auszulösen.
Da beobachten die Soldaten auf der Jerusalemer Mauer einen Mann, der mit einer großen Anhängerschar über den Ölberg kommt und in die Heilige Stadt einzieht – einen Mann, den sie nie zuvor in Jerusalem gesehen haben.
„Hosanna!”, rufen die, die dem Unbekannten vorauseilen. „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!”
Irgendeiner der Soldaten wird Pilatus diesen spektakulären Einzug an einem der südlichen Stadttore gemeldet
haben. Es gibt keinen Bericht über die Reaktion des Präfekten, doch einiges spricht dafür, dass er zunächst abwarten will. Aber er dürfte nun alarmiert sein und noch nervöser als zuvor.
Es ist der 9. Nisan des jüdischen Kalenders, das 17. Jahr der Herrschaft des römischen Kaisers Tiberius – Sonntag, der 2. April des Jahres 30. Jener Mann, der die Römer in Alarmbereitschaft versetzt, ist Jesus von Nazareth, und er hat noch rund 120 Stunden zu leben.
Der Mann aus Galiläa stiftet die größte Religionsgemeinschaft der Welt. Fast zwei Milliarden Christen berufen sich heute auf ihn. Seit zwei Jahrtausenden gehen Menschen in seinem Namen in den Tod oder begehen in seinem Namen Morde. Ihm zu Ehren schickten Inquisitoren Tausende auf die Scheiterhaufen. Ihm zu Ehren errichteten unzählige Namenlose als fromme Spender und Helfer Kathedralen und Hospize, erhielten all das am Leben, was wir heute unter „Kirche” verstehen.
Doch wer war dieser Jesus von Nazareth, in dessen Namen seit zwei Jahrtausenden Liebe und Leid in die Welt kommen? Seit rund 300 Jahren schieben Wissenschaftler jene unzähligen dunklen Schichten der Überlieferung, die uns von der Antike trennen, nach und nach beiseite, um einen Blick auf den „wahren”, den historischen Jesus zu werfen. Inzwischen haben Historiker und Theologen, Philologen und Archäologen aus verstreuten Funden und wiederentdeckten altjüdischen Texten, aus dem Mauerwerk eines 2000 Jahre alten Dorfhauses und den mürben Planken eines uralten Fischerbootes, aus dem Grab eines Hohepriesters und dem Skelett eines Hingerichteten, aus Münzen, Inschriften und steinernen Gefäßen ein faszinierendes Puzzle zusammengefügt. Sie haben rekonstruiert, wie die Menschen in jener Gegend am Ostrand des Imperium Romanum damals dachten und was sie hofften, woran sie glaubten und was sie hassten.
Dieses Bild ist nach wie vor ein Fragment, aber doch präzise genug für eine Zeitreise auf den Spuren Jesu.
Die wichtigste, aber auch problematischste Quelle zum Leben und Wirken Jesu ist das Neue Testament. Jesus selbst hat keinen einzigen Text hinterlassen. Auch seine Weggefährten, unter denen sich wohl kein Gelehrter befand, haben das, was ihnen wichtig erschien, weitererzählt, nicht aufgeschrieben.
Erst irgendwann zwischen den Jahren 40 und 50 haben Christen, so rekonstruieren es Philologen und Theologen aus den biblischen Texten, viele Sprüche und Gleichnisse des Mannes aus Galiläa gesammelt und niedergeschrieben. Diese „Logienquelle” aber ist längst verschollen.
Die ältesten erhaltenen Zeugnisse sind die nach dem Jahr 50 verfassten Briefe des Paulus. Dieser griechisch gebildete Jude aus dem kleinasiatischen Tarsus aber kannte Jesus nicht persönlich, und wahrscheinlich auch nicht dessen Heimat Galiläa. Und es scheint ihn auch nicht sonderlich interessiert zu haben, denn er liefert, abgesehen von einer Beschreibung des letzten Abendmahles, kaum brauchbare biografische Informationen.
Die finden sich erst bei Markus, Matthäus und Lukas. Nach zwei Jahrhunderten intensiver Textforschung sind sich die meisten Wissenschaftler heute darin einig, dass Markus kurz vor dem Jahr 70 aus mündlich überlieferten Berichten seine „Frohe Botschaft” (griechisch euangelion) niederschrieb. Matthäus und Lukas haben, unabhängig voneinander, aus dem Markus-Evangelium, der Logienquelle und jeweils eigenem Material dann zwischen den Jahren 75 und 100 ihre Werke verfasst. Diese drei eng verwandten, so genannten „synoptischen Evangelien” liefern mehr Informationen als das um das Jahr 100 und wohl unabhängig von ihnen verfasste Johannes-Evangelium.
Alle vier Autoren aber sind längst Schemen geworden. Die Christen der Antike etwa hielten Lukas für einen griechischen Arzt, der Paulus auf einigen Reisen begleitete. Es finden sich ein paar Indizien im Neuen Testament – Lukas schreibt an manchen Stellen „wir”, wenn er die Reisen des Paulus beschreibt; in einem Brief des Apostels wird „der Arzt Lukas” erwähnt –, doch Beweise sind das nicht.
Rund 5000 vollständige Manuskripte oder Textfragmente des Neuen Testaments aus der Antike sind bis heute entdeckt worden; das älteste ist ein um das Jahr 125 verfasster ägyptischer Papyrus mit einem Teil des Johannes-Evangeliums. Doch kein einziges Original ist erhalten. Es gibt nur antike Abschriften.
Sicher ist, dass alle Evangelien in Griechisch verfasst worden sind, der Weltsprache der Epoche. Sie sind also „Übersetzungen”, denn Jesus, der Galiläer, sprach Aramäisch. Sicher ist ebenfalls, dass schon die ersten christlichen Gemeinden „bearbeitete” Fassungen erstellen ließen, etwa mit einer einheitlichen Schreibweise. Bestimmte Begriffe, wie „Jesus”, wurden beispielsweise abgekürzt und durch einen darüber gezogenen Strich gleich gekennzeichnet. Um das Jahr 150 wurde das Neue Testament in seiner heutigen Form zusammengestellt. Andere alte Texte – wie die Logienquelle – wurden fortan nicht mehr kopiert und schließlich vergessen.
Die wichtigste Quelle ist also eine über 100 Jahre nach der Kreuzigung bearbeitete Textsammlung. Angesichts solcher Quellen ist es ungemein schwierig, Authentisches von später Hinzugefügtem oder Verändertem zu unterscheiden. Und Informationen, die den frühen Christen irrelevant erschienen, sind durch diese Bearbeitung oft für immer verloren gegangen.
Denn auch in den seltenen Fällen, in denen doch einmal Fragmente jener später vergessenen Texte auftauchen, hilft das wenig. Das „Thomas-Evangelium” etwa, das 1945 in einer alten christlichen Bibliothek im oberägyptischen Nag Hammadi entdeckt wurde, ist in wesentlichen Abschnitten wohl noch vor dem Jahr 100 verfasst worden. Es enthält 144 Lehrsätze, jeder eingeleitet mit der Formulierung „Jesus sprach” – aber nichts sonst über den Mann aus Galiläa.
Dass Jesus überhaupt real war und nicht ein von Gläubigen geschaffener Mythos, das bezeugen ausgerechnet Nicht-Christen. Die römischen Historiker Sueton (ca. 70 bis ca. 130) und Tacitus (55 oder 56 bis ca. 120) erwähnen ihn. Am wichtigsten aber ist der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus. Er wurde im Jahr 37 oder 38 geboren, beteiligte sich 66 an einem großen Aufstand gegen Rom, lief aber bald zum Gegner über. Für die Römer schrieb er 93/94 das Werk „Jüdische Altertümer”, in dem er die Geschichte seines Volkes darstellte. Und dort berichtet er von Jesus als dem „Vollbringer ganz unglaublicher Taten und Lehrer aller Menschen”.
Kein Text allein vermittelt viel von Jesus und seiner Welt. Aber alle zusammen, kombiniert mit anderen Ergebnissen der Althistoriker und Archäologen, ergeben doch ein überraschend präzises Porträt des Mannes und seiner Epoche.
Um die Zeitenwende leben etwa 400000 Juden in ihrer Heimat, verteilt vor allem auf zwei Regionen: Judäa, das Land rund um Jerusalem, vom Jordan bis zum Mittelmeer, und Galiläa, der kaum 40 Kilometer durchmessende Landstrich westlich des Sees Genezareth. Ihr Herrscher ist Herodes der Große, ein Emporkömmling mit heidnischem Vater und jüdischer Mutter, der sein politisches Schicksal an das Roms gekettet hat: Der römische Senat hat ihm den Titel „König von Judäa” verliehen; an Rom führt Herodes einen Teil der Steuern ab; römische Legionen aus der Provinz Syria können binnen Tagen in Jerusalem stehen, um ihn vor Aufständen zu schützen – oder bei Unbotmäßigkeit abzusetzen. Für Rom ist es militärisch und finanziell günstiger, einen unruhigen Landstrich wie Judäa durch einen einheimischen Klientelkönig regieren zu lassen.
Für die Juden sind es Jahrzehnte einer dreifachen Krise:
* Politisch, weil sie von Herodes und damit letztlich von Rom beherrscht werden.
* Kulturell, weil die griechisch-römische Zivilisation mit ihren Göttern, ihrem Handel, ihrer so ganz anderen Lebensweise (die sich beispielsweise weder um den Sabbat noch um Essensgebote schert) in Judäa und Galiläa vordringt.
* Religiös, weil das auserwählte Volk Gottes offensichtlich von ebenjenem Gott verlassen worden ist. Weshalb würde es von den Römern sonst so gedemütigt?
Wie aber kann es wieder erlöst werden?
Auf diese Frage gibt es viele Antworten – und auch das macht die Lage im Land so unübersichtlich, so explosiv. Denn die Juden sind keineswegs geeint.
Die Sadduzäer etwa stellen die traditionelle Elite des Volkes – jene Familien, aus denen der Hohepriester des Jerusalemer Tempels stammt und die den lokalen Adel stellen. Sie empfinden sich als Hüter der Tradition. Apokalyptische Spekulationen lehnen sie ab. Und mit Rom haben sie sich arrangiert – aus ihren Reihen stammen die Würdenträger, die mit der Besatzungsmacht kooperieren. Im Volk sind sie verhasst.
Geachtet sind die Pharisäer. Sie stellen die meisten Schriftgelehrten – Männer, welche die Bücher Mose und der Propheten lesen und aus ihnen auch die Gesetze für die Gegenwart ableiten (wird das Sabbatgebot verletzt, wenn man an diesem Tag einem Kranken hilft?). Sie sind eine Elite schon deshalb, weil sie die heiligen Texte studieren.
Noch elitärer, noch strenger geben sich die asketischen Essener, deren Zentrum wohl die klosterähnliche Anlage von Qumran am Toten Meer ist. Sie sehen sich als die Auserwählten des auserwählten Volkes, als die Einzigen, die, rein im Glauben, dereinst errettet werden.
Die Sicarii und die Zeloten setzen dagegen nicht nur auf Schriftstudium und kultische Reinheit, sondern auf Gewalt und Mord. Sie kämpfen mit der Waffe für die Befreiung ihres Volkes. Sicarii – die sica ist ein kurzer Dolch – schleichen sich am helllichten Tag in Jerusalem an vornehme Juden heran, die mit den Römern kooperieren, und stechen sie nieder.
Daneben ziehen selbst ernannte Propheten, Wundertäter und Magier durch die Städte und Dörfer, manche mit kleinen Anhängerscharen, andere ganz allein.
Gemein ist all diesen Gruppen, mit Ausnahme der Sadduzäer, dass sie sich mehr oder weniger nah am Vorabend der Apokalypse wähnen. Es wird, glauben sie, bald den Endkampf geben, die finale Schlacht Gottes gegen das Böse, die mit der Befreiung Israels gekrönt werden wird. Ein Erlöser wird erscheinen, vielleicht schon morgen.
In diesem unruhigen Land sorgt Herodes seit dem Jahr 37 v. Chr. im Auftrag Roms für Ruhe. Mit Gewalt setzt er seine Politik, seine Bauvorhaben, seine Steuern durch; beim ersten Verdacht auf Widerstand droht die Hinrichtung. So lässt der König sogar sieben eigene Söhne ermorden, weil er sie für Verschwörer hält.
Doch als Herodes Ende März oder Anfang April des Jahres 4 v. Chr. stirbt, droht dem Land ein Flächenbrand. An vielen Orten sammeln sich Unzufriedene; Aufstände brechen los. Der Kaiser muss Truppen entsenden – und fügt das Land enger ins Imperium ein: Galiläa und die Nachbarregion Peräa werden nach mehrjährigen Wirren von Herodes Antipas beherrscht, einem der wenigen Söhne Herodes des Großen, die allen Nachstellungen entgangen sind. Judäa wird seit 6 n. Chr. von einem römischen Präfekten regiert.
Während dieser Wirren ziehen Legionäre durch Galiläa. Ihr Kommandant ist Publius Quinctilius Varus, jener Feldherr, der 13 Jahre später bei der „Schlacht im Teutoburger Wald” in Germaniens Wäldern untergehen wird. Varus zerstört auch die prachtvolle Stadt Sepphoris. Wäre seine Legion danach in Richtung Süden abgeschwenkt und rund eine Stunde marschiert, hätte sie möglicherweise ein abgelegenes Bauerndorf verwüstet – und die Weltgeschichte wäre anders verlaufen. Denn jener Weiler am Ende eines engen Tales ist Nazareth.
Als die Legionäre die Nachbarstadt Sepphoris plündern, ist Jesus von Nazareth, so vermuten die meisten Forscher heute, einige Monate alt.
Ein jeder kennt die Weihnachtsgeschichte von Lukas: Joseph und Maria brechen von ihrem Heimatort Nazareth gen Bethlehem auf, da der römische Kaiser eine Steuerschätzung befohlen hat und sich jede Familie dafür zu ihrem Stammsitz begeben muss. Dann die Geburt im Stall und die Anbetung der Hirten. Die Lukanische Geschichte ist datierbar – und leider falsch.
Dank mehrerer antiker Quellen wissen Althistoriker, dass die Steuerschätzung tatsächlich angeordnet worden ist – zwischen den Jahren 6 und 8 n. Chr. Lukas berichtet, dass Jesus ungefähr 30 Jahre alt ist, als er erstmals predigt. Sein öffentliches Wirken dauert mindestens ein Jahr, dann wird er gekreuzigt. Sollte er tatsächlich im Jahr der Steuerschätzung geboren sein, müsste die Hinrichtung frühestens 37 stattgefunden haben. Pontius Pilatus aber, der Präfekt, der ihn ans Kreuz nageln lässt, wird bereits im Jahr 36 nach Rom zurückgerufen. Die Geschichte kann also nicht stimmen.
Matthäus überliefert eine andere Version: Jesus wird in Bethlehem geboren. Doch dann ordnet Herodes nach dem Auftreten der drei Weisen die Ermordung aller Kinder unter zwei Jahren in seinem Reich an. Die Familie flieht, wartet im ägyptischen Exil den bald darauf erfolgten Tod des Despoten ab, kehrt zurück und lässt sich diesmal in Nazareth nieder.
Heidnische und jüdische Chronisten überliefern viele Beispiele der Gewalttätigkeit des Herodes, doch über einen Massenmord an Kindern berichtet niemand. Auch dies, vermuten die meisten Theologen heute, ist eine fromme Legende.
Aus Bethlehem nämlich, verkündet der Prophet Micha, werde dereinst der Erlöser kommen. Nazareth dagegen ist ein so unbedeutender Weiler, dass er im Alten Testament nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Die meisten Wissenschaftler vermuten deshalb, dass Matthäus und Lukas ihre Geschichten erzählen, um das Wirken Jesu den alten Prophezeiungen anzupassen.
Sie erzählen auch von der Jungfrauengeburt – aus ähnlichen Motiven: Bei den Griechen und Römern galten außergewöhnliche Menschen als Abkömmlinge eines Gottes mit einer (Jung-)Frau. Vom Sagenhelden Herakles wurde das berichtet, aber auch von großen Herrschern.
Die wohl ursprünglich von den ersten Christen überlieferte Version schimmert noch, gleich einem Palimpsest, durch das Matthäus-Evangelium hindurch. Das beginnt nämlich: „Dies ist das Buch von der Geburt Christi, der da ist ein Sohn Davids, des Sohnes Abrahams.” Um danach all seine Vorväter aufzuzählen – bis hin zu Joseph. Diese Aufzählung ist nur dann sinnvoll, wenn Jesus einst als leiblicher Sohn Josephs angesehen wurde. Tatsächlich wird Jesus wohl als Sohn Josephs in Nazareth geboren worden sein. Und vermutlich, da es dafür mehrere Überlieferungen gibt, in der Endzeit des Herodes, also kurz vor dem Frühling des Jahres 4 v. Chr.
Nazareth: Das sind einige Hütten aus Steinmauern, isoliert mit Stroh, Lehm und Dung. Ein paar Zisternen, eine Quelle, ein paar Mühlsteine und Kornspeicher. Neben den Hütten, an den Berghängen, Weinstöcke, Getreidefelder, Olivenbäume. Das zumindest ist alles, was Archäologen aus jener Zeit rekonstruieren können.
Gerade mal 400 Menschen werden hier gelebt haben. In wenigen Minuten wird man durch das ganze Dorf gewandert sein, auf staubigen Wegen, denn keine Straße ist gepflastert. Kein einziges öffentliches Gebäude aus dieser Zeit ist bekannt. In der Bibel wird eine Synagoge erwähnt, doch das wird ein Hof oder ein großer Raum in einer der Hütten gewesen sein.
Allerdings hat der amerikanische Archäologe Richard Freund im Sommer 2003 die These aufgestellt, ein im heutigen Nazareth schon länger bekanntes, unterirdisches Gewölbe sei einst Teil einer römischen Therme gewesen, ein Badehaus für Legionäre. Für Freund ein Indiz, dass Nazareth zur Zeit Jesu Stützpunkt für ein paar Hundert römische Soldaten war – und damit nach den Maßstäben der Epoche eine recht bedeutende Stadt.
Martin Peilstöcker, ein deutscher Archäologe in der Israelischen Antikenverwaltung, ist dagegen, wie die meisten Fachleute, skeptisch: Die These seines US-Kollegen sei ein „frommer Wunsch”, die Ruine könne man gar nicht mehr genau datieren, wahrscheinlich aber stamme sie aus der Zeit der Kreuzfahrer.
Eines der Häuser in Nazareth wird Joseph gehört haben und dessen Frau Maria. Jesus (aramäisch: Jeschua, „Gott hilft”) ist der älteste Sohn. Er hat vier Brüder – Jakobus, Joses, Judas, Simon – und mindestens zwei namentlich nicht bekannte Schwestern. „Tekton” sei Joseph gewesen, berichten die Evangelien, was unzureichend mit „Zimmermann” übersetzt wird. „Baumeister” wäre besser – ein Handwerker, der mit Steinen und Stroh genauso umgehen kann wie mit Holz. Und vielleicht wird nicht einmal das dem Beruf gerecht. Griechische Dokumente jener Epoche – etwa Rechnungen und Verwaltungsberichte – erwähnen einen Tekton auch beim Schleusenbau, bei der Instandhaltung von Schöpfrädern oder der Ausbesserung eines Sattels. Jesus wird, als erstgeborener Sohn, das Handwerk seines Vaters erlernt haben. So, wie es die Tradition vorsieht.
Was sonst seine Kindheit, seine Jugend, seine frühen Erwachsenenjahre bestimmt – alles Spekulation. Nichts davon ist in den Evangelien zu finden, nicht einmal, wie Jesus ausgesehen hat (die ersten Bildnisse werden einige Jahrhunderte nach der Kreuzigung gemalt).
Wird ein Tekton in einem Weiler wie Nazareth sein Auskommen finden? Wohl kaum. Also kann man vermuten, dass Joseph – und dann, als sein Gehilfe, auch Jesus – im benachbarten Sepphoris gearbeitet hat. Diese Stadt nämlich wird nach der Verwüstung durch Varus prachtvoll wieder aufgebaut.
Jesus kennt also möglicherweise aus eigener Anschauung den Prunk einer hellenistischen Stadt. Vielleicht lernt er auch Griechisch, zumindest rudimentär.
Andererseits kann er, wie wohl all seine Mitbürger in Nazareth, nur in gewissem Umfang lesen und schreiben. In der Synagoge werden ihm Ältere die Geschichten der Thora und die Weissagungen der Propheten erzählt und er wird sie auswendig gelernt haben.
Das alles ist zwar nicht beweisbar, aber plausibel, weil es so oder ähnlich in unzähligen Fällen vorkam, weil die Söhne in Galiläa eben so aufwuchsen.
Was aber ist das Ungewöhnliche? Wer oder was treibt Jesus schließlich hinaus aus Nazareth? Was formt ihn in den immerhin gut 30 Jahren, die er dort verbracht hat?
Die Sadduzäer und die Priester werden sich weder für Nazareth noch für seine Bewohner je interessiert haben. Den Rigorismus der Pharisäer wird Jesus später immer kritisieren – unwahrscheinlich, dass er ihnen je nahe gestanden haben könnte.
Ist Jesus Essener gewesen? Ein reizvoller Gedanke, dass es den jungen Mann aus Galiläa, beseelt von religiösen Idealen, irgendwie von Nazareth bis ans Tote Meer nach Qumran verschlagen haben könnte, wo er die Schriften studiert hat. Tatsächlich glauben die Essener, wie es auch Jesus später predigen wird, an die baldige Herrschaft Gottes. Allerdings erst für die nahe Zukunft, während er sie bereits in der Gegenwart angebrochen sieht. Und den Essenern sind der Tempel, das Priestertum, die kultische Reinheit wichtig – Themen, die Jesus eher gleichgültig sind. Die Essener sehen sich als Elite der Reinen, Jesus dagegen wird sich später den Unreinen, den Zöllnern und Prostituierten zuwenden.
War er also vielleicht ein Zelot? Auch diese politischen Eiferer geben ja gerade den Armen, den Verachteten Hoffnung. Und sie sind, wie Jesus, zum Martyrium, zum Tod für ihre Sache bereit. Doch sie kämpfen und morden dafür – was Jesus um jeden Preis ablehnt.
Sind Jesus die radikalen Positionen möglicherweise durch die Umstände seines Lebens aufgezwungen worden? Der (unter Fachkollegen allerdings umstrittene) Theologe Gerd Lüdemann interpretiert eine Passage im ältesten Evangelium so. Markus (der im übrigen über Geburt und Jugend Jesu kein Wort verliert) berichtet, wie Jesus später in Nazareth predigt und ihn seine ehemaligen Mitbürger „Sohn der Maria” nennen. Das, so der deutsche Forscher, sei auffällig, denn üblich sei in jener Zeit die Vatersbezeichnung, also „Sohn des…” Gilt Jesus deshalb in Nazareth doch nicht als Sohn des Joseph?
Ist er also ein illegitimes Kind, ist seine Mutter bei seiner Geburt noch unverheiratet gewesen? Für die Nazarener wäre dies ein Zeichen vorehelicher Sünde. Hätte dies nicht dazu geführt, dass Jesus in jenem winzigen Dorf von allen als Außenseiter angesehen wurde? Und würde das nicht erklären, wieso er sich später gerade den Außenseitern zuwandte und die Eliten so scharf ablehnte?
Einigermaßen sicher ist nur, dass Jesus, wohl im Jahre 28 oder 29, etwas Unerhörtes tut: Er verlässt seine Familie. Joseph ist um diese Zeit wahrscheinlich schon tot, zumindest wird er in den Evangelien danach nicht mehr erwähnt. Wenn der Vater aber verstorben ist, hat der älteste Sohn die Pflicht, für die Mutter und die Geschwister zu sorgen.
Wer seine Familie in dieser Situation verlässt, der verstößt gegen das vierte Gebot und verhält sich nach den Maßstäben der Zeit so unmoralisch und rücksichtslos wie ein Mörder oder Ehebrecher. Vor allem seine Brüder scheinen Jesus dies nicht verziehen zu haben. Als er schon bekannt ist, gehen, so berichtet Markus, „die Seinen aus und wollten ihn halten; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen”.
Die Althistoriker werden wohl niemals erfahren, weshalb Jesus damals Nazareth verlassen hat – aber die Evange-lien berichten, wohin er ging: zu Johannes dem Täufer. Der ist einer jener Prediger aus dieser unruhigen Zeit: ein Prophet, der am Jordanufer vor dem drohenden Weltengericht warnt – und nur den Bußfertigen, die sich von ihm taufen lassen, die Ewigkeit verspricht.
Dem Lukas-Evangelium zufolge tritt Johannes „im fünfzehnten Jahr des Kaisertums Kaisers Tiberius” auf, wahrscheinlich zwischen Herbst 28 und Herbst 29. Die Evangelisten berichten über ihn, ebenso Flavius Josephus. Schnell scharen sich Anhänger um den Mann, der am Wüstensaum über das Ende der Welt predigt – und über die moralischen Verfehlungen des Herrschers. Doch der ständig drohende Aufruhr im Land wird Johannes zum Verhängnis. Aus Angst vor dem demagogischen Talent des Täufers lässt Herodes Antipas den selbst ernannten Propheten kurzerhand exekutieren.
Da ist Jesus aber bereits weitergezogen. Für eine kurze Zeit, vielleicht nur ein paar Wochen, gehört der Mann aus Nazareth zu den Anhängern des Johannes. Er lässt sich von ihm taufen, doch wohl unmittelbar danach löst er sich von ihm. (Jesus selbst hat nie jemanden getauft.)
Im Frühjahr 29 verkündet in Galiläa ein neuer Prediger seine Botschaft.
Die Bergpredigt, die Gleichnisse, die Wunder – was um Jesus danach geschieht, gehört zum überlieferten Kanon des Abendlandes. Doch die Evangelisten bleiben in ihren Ortsbeschreibungen vage und in der Chronologie unbestimmt. Seriös zu rekonstruieren ist Folgendes: Jesus predigt wahrscheinlich nur etwa ein Jahr lang. Er zieht durch einen Teil Galiläas, markiert durch die Städte Kapernaum-Bethsaida-Chorazim, ein Dreieck am See Genezareth, das in vier bis fünf Stunden umwandert werden kann. In dieser winzigen Region predigt er; hier erzählt er die Gleichnisse; hier finden, wenn überhaupt, die Wunder statt.
Mit anderen Worten: Jesus ist von seiner Herkunft her, der Dauer seines Wirkens und dem Ort seines Auftretens in jeder Hinsicht eine Randfigur. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die annähernd zeitgenössischen heidnischen Autoren, dass Roms adelige Politiker und Schreiber wie Tacitus und Sueton so wenig von seinem Auftreten berichten. Es ist vielmehr erstaunlich, dass sie ihn überhaupt erwähnen.
In den Evangelien ist es einfach: Jesus tritt auf, befiehlt jedem der von ihm erwählten Jünger „Folge mir nach!” – und sie verlassen Familien, Haus und Hof und schließen sich ihm an. Dass sich ihm Menschen tatsächlich bedingungslos ergeben, ist sehr wahrscheinlich. Schließlich werden einige von ihnen noch Jahrzehnte nach der Kreuzigung in seinem Namen in den Tod gehen, etwa Petrus. Aber für jenen ersten Schritt zur Jüngerschaft wird wohl eine simple Aufforderung allein nicht ausgereicht haben.
Petrus und dessen Bruder Andreas, die ersten beiden Jünger, sind nach der Johannes-Version auch Anhänger, zumindest Sympathisanten von Johannes dem Täufer. Es ist also nicht auszuschließen, dass Jesus seine beiden wichtigsten Gefolgsleute schon dort getroffen und für sich gewonnen hat.
Zumindest wird das Haus des Fischers Petrus in Kapernaum am Ufer des Sees Genezareth zu einer Art Basislager für Jesus: ein Refugium, in dem er sein zweites Wunder vollbringt (die Heilung der Schwiegermutter Petri), in das er sich zwischen seinen Wanderungen immer wieder zurückzieht – und das Archäologen womöglich wiederentdeckt haben.
1906 fanden sie unter einer byzantinischen Kirche antike Reste, die freilich erst zwischen 1968 und 1998 von franziskanischen Archäologen genauer untersucht werden konnten. Die frommen Forscher legten unterhalb des byzantinischen und den Ruinen eines noch älteren, spätantiken Gotteshauses die Reste eines normalen Wohngebäudes frei. Kapernaum war zur Zeit Jesu eine blühende Fischerstadt am See Genezareth mit rund 1000 Einwohnern.
Die Franziskaner fanden unter der Kirche ein rund 2000 Jahre altes Haus: eine Ansammlung blockförmiger Gebäude aus Lehm, Stroh und Holz, die einen Innenhof umschlossen. Einer der Räume aber war anders als die anderen: Immer wieder war er in der Antike neu verputzt worden – und in den Lehmputz waren Hunderte Graffiti in Griechisch, Syrisch, Hebräisch und Latein eingeritzt.
Es waren fromme Wünsche christlicher Pilger, die wohl schon seit dem 2. Jahrhundert dieses Haus besuchten. Das ist noch kein Beweis, aber doch ein recht plausibles Indiz dafür, dass die frühen Christen niemals vergaßen, wo das Haus des Petrus gelegen hatte – und dass spätestens ein Jahrhundert nach seinem Tod Wallfahrten dorthin stattfanden und dieser Raum vom Profanen ins Sakrale erhoben wurde.
Mit Kapernaum schafft sich Jesus eine Basis, die besser zugänglich ist als Nazareth. Kapernaum liegt in der Nähe der Via Maris, einer Fernstraße, die bis nach Syrien und Ägypten führt. Einem Römer wäre diese Ansiedlung zwar immer noch barbarisch vorgekommen: die ungepflasterten, planlos angelegten Gassen höchstens drei Meter breit, keine Kanalisation, keine einzige öffentliche Latrine, der Hafen ein paar Steinmolen am Ufer. Dennoch sind die dort lebenden Fischer, nach den Maßstäben Galiläas, durchaus wohlhabend.
Im Januar 1986, als der See Genezareth auf einem historischen Tiefstand war, wurden im Bodenschlamm die Reste eines antiken Bootes entdeckt. Es war ein Fischerboot, und es stammte, wie Radiokarbondatierungen des Holzes ergaben, aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Das Boot war rund acht Meter lang gewesen, hatte einen Mast und Segel. Der Kiel war aus libanesischer Zeder, die Planken waren aus Pinien- und anderem lokalen Holz, zum Teil verzapft, zum Teil einst von eisernen Nägeln zusammengehalten. An Bord lagen noch ein paar alte irdene Gefäße und eine Öllampe.
Das Boot konnte mindestens 13 Menschen tragen. 13 Menschen – das sind der Fischer und ein Dutzend angeheuerte Männer, Sklaven oder Familienmitglieder. Ein Zeichen dafür, dass der Beruf des Petrus durchaus profitabel war und zumindest mehr Menschen ein Auskommen sicherte als etwa ein kleiner Bauernhof. Der Fischer, der Jesus als Erster folgte, war also kein armer Mann.
Von den anderen Jüngern kennen die Historiker kaum mehr als die Namen. Simon der Zelot – ein politischer Eiferer, der dann zu Jesus übergelaufen ist? Philippus – ein Jude mit griechischem Namen und vielleicht auch griechischer Muttersprache? Judas Iskariot – ein „Mann aus Kerioth”, einem Ort östlich des Toten Meeres? Oder eine Anspielung auf „sicarius”, also darauf, dass auch er eine radikale Vergangenheit hat? Oder erst ein viel später von den Evangelisten eingefügter Beiname: „Mann der Falschheit”?
Die meisten Anhänger sind höchstwahrscheinlich, wie ihr Anführer, einfache Menschen aus Galiläa gewesen. Es ist in der Antike üblich, dass sich jüdische Schüler einem berühmten Schriftgelehrten oder Rabbi anschließen. Unter seinen Anhängern hat Jesus zwölf Männer, die Apostel, herausgehoben – in Anspielung auf die symbolische Dutzendzahl, etwa auf die legendären zwölf Stämme des Volkes Israel. Aber auch diese Zahlensymbolik ist nicht ungewöhnlich.
Außergewöhnlich dagegen ist, dass Jesus auch viele Frauen folgen. Die Gesellschaft ist patriarchalisch: Zehn Männer sind zur Gründung einer Synagogengemeinschaft notwendig, aber keine einzige Frau; Frauen dürfen nicht aus der Thora lesen, im Jerusalemer Tempel ist ihnen nur ein Hof reserviert; sie dürfen nicht als Zeugen vor Gericht aussagen.
Doch von Anfang an gehören sie, wie alle Evangelisten hervorheben, zu den eifrigsten Gefolgsleuten Jesu. Maria aus Magdala, einer Stadt auf halbem Weg zwischen Nazareth und Kapernaum, die Jesus von „sieben Dämonen” (wohl einer schweren Krankheit) heilt, wird die Bekannteste unter ihnen.
Ungewöhnlich ist ferner, dass die Jünger mit ihm herumziehen, statt mit Jesus an einem Ort eine Gruppe zu bilden. Ein Skandal aber ist die Herauslösung aus den Familien. „Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert!”, fordert Jesus von seinen Anhängern. Er selbst rechnet sich zu den „Verschnittenen”, die ehelos bleiben, um allein Gott zu dienen.
Für die Bauern, Hirten und Fischer müssen dieser Mann und seine Anhänger beunruhigend fremd und dabei doch seltsam vertraut wirken: fremd, da die Gruppe brotloser Menschen von Almosen lebt und ohne Wanderstock herumzieht, denn so ein Stecken könnte als Waffe gedeutet werden und damit das Liebesgebot verletzen. Vertraut, weil in so einem kleinen Land wohl jedermann Jesus oder einen seiner Anhänger gekannt haben wird – und weil Jesus ja nur einer von vielen ist, die herumziehen und predigen. Und Wunder tun.
Wunder gehören zur Vorstellungswelt der Antike. Sie werden „Machttaten”oder „Zeichen” genannt. Manche Rabbis können Wunder vollbringen, aber auch ein griechischer Gott wie Asklepios, in dessen Tempel sich Kranke zum Heilschlaf niederlassen. Viele alltägliche Ereignisse werden erst durch die Überlieferung zu Wundern – und aus einem Festmahl mit vielen Anhängern eine „Speisung der Fünftausend”.
Doch Jesus soll auch Kranke geheilt haben – nur können Mediziner heute kaum mehr rekonstruieren, ob jemand, der als „besessen” oder „gelähmt” galt, nun tatsächlich physisch krank war (und die Suggestionskraft des Wunderheilers körpereigene Heilungsprozesse in Gang setzte), ob es sich um eine psychische Krankheit handelte oder nur um psychosomatische Beschwerden.
Keiner der antiken Gegner Jesu hat dessen Wunder je bestritten. Sie gelten als so bedeutsam, dass man sie der Nachwelt überliefert und nicht ernsthaft infrage stellt. Aber für
Jesus sind die Wunder nicht annähernd so wichtig wie seine Predigten. Die Gleichnisse, die Belehrung, die Ermahnung, die Rede – das ist es, was vor allem zählt.
Und da gibt sich der Mann aus Nazareth umstürzlerisch. Die bekannte Schmähung des Reichen – „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme!“ – bleibt nicht die einzige Äußerung dieser Art. Mit seiner demonstrativen Missachtung des Reichtums provoziert er die Eliten seiner Zeit, die Großgrundbesitzer, die Adeligen, die Priester, denn auf sie sind diese Worte gemünzt. Den Kult, die Rituale, die Reinheitsgebote des Judentums beurteilt Jesus dagegen weniger streng.
Sabbat-Heiligung? „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“
Bestrafung des Ehebruchs, eines, zumindest bei der Frau, todeswürdigen Verbrechens? „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“
Die Pflicht, die Toten zu beerdigen? „Folge du mir, und lass die Toten ihre Toten begraben.“
Diese Geringschätzung der Tradition kann als Aufforderung zum Umsturz verstanden werden. Denn durch all diese Bräuche unterscheiden sich die Juden seit Jahrhunderten von ihren Nachbarn: Nicht nur durch den Glauben, sondern auch durch das Sabbatgebot, durch die koscheren Speisen, durch die Beschneidung und weitere Bräuche grenzen sie sich von den oft übermächtigen Fremden ab und schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl über Jahrhunderte, über Zeiten des Exils und der Diaspora hinweg. All das infrage zu stellen, ist Verrat am religiösen Verständnis der Mehrheit seines Volkes.
Jesus ist Jude, seine Anhänger sind Juden, er predigt vor Juden (und lehnt es ausdrücklich ab, zu den Heiden zu gehen). Doch er fordert von seinen Anhängern, auf vieles von dem zu verzichten, was seit Jahrhunderten das Judentum ausmacht.
Aber zählen all die Traditionen überhaupt noch, wenn man sich in der Endzeit befindet? Wie Johannes der Täufer erwartet auch Jesus schon bald das apokalyptische Ringen zwischen Gut und Böse. Doch anders als alle anderen Prediger glaubt Jesus nicht, dass Gottes Herrschaft nah, sondern dass sie bereits da sei: Mit ihm, mit seinem Wirken, breche die Herrschaft Gottes an. So zumindest lassen sich seine Aussagen deuten. Wer ihm folge, der werde errettet; wer seine Botschaft ablehne, der werde beim Jüngsten Gericht verdammt.
Er sieht sich wohl als „Menschensohn“ – ein rätselhafter Name, der vielleicht auf einige apokalyptische Schriften des Alten Testaments zurückgeht. Bei Daniel etwa heißt es, dass einer, der aussieht „wie eines Menschen Sohn“, dereinst von Gott die Macht über die Völker erhalten werde.
Lässt er sich auch „Messias“ nennen? Es gibt zu seiner Zeit im Judentum viele Vorstellungen von jenem künftigen „Gesalbten“: Das mag ein König sein, ein Prophet oder ein Hohepriester – jedenfalls ein Mensch, der Gott geweiht ist und für das Volk Israel das Heil herbeiführt. Wie aber und wann, darüber wird heftig gestritten.
Im Neuen Testament lässt sich Jesus von seinen Jüngern als „Messias“ anreden. Im Thomas-Evangelium, das auf eine sehr alte mündliche Überlieferung zurückgeht, fehlt dagegen dieser Begriff. So ist es möglich, dass Jesus sich, zumindest öffentlich, nie auf diesen Begriff festgelegt hat. Geleugnet haben wird er ihn aber auch nicht – und seine ganze Lehre läuft darauf hinaus, dass man ihn als Messias sieht.
Das aber ist die größte Provokation: Wenn jener Zimmermannssohn beansprucht, der Messias zu sein, dann kann nur erlöst werden, wer ihm folgt. Dann ist Jesus die oberste Autorität des Judentums. Das werden die Priester nicht gern vernommen haben, und die Römer schon gar nicht. Doch anders als Johannes der Täufer wird Jesus zunächst nicht verfolgt. Das mag daran liegen, dass sich sein Wirken auf eine von Jerusalem so abgelegene Gegend wie Galiläa beschränkt und er dort die größten Städte meidet.
Oder daran, dass Jesus so erfolglos ist.
Manches deutet darauf hin, dass er nach rund einem Jahr an einem toten Punkt angekommen ist. Er zieht, begleitet von einer vielleicht zwölfköpfigen, vielleicht auch größeren Anhängerschar, durch die Orte am Ufer des Sees Genezareth und verkündet dort die frohe Botschaft vom heraufziehenden Reich Gottes. Nach ein paar Monaten wird jeder dort von ihm gehört haben – manche werden ihm glauben, andere nicht. Und dann? Nichts.
Nichts hat sich geändert. Der Sabbat wird geheiligt wie eh und je; die Pharisäer legen die Schriften aus; die Essener bekämpfen die Pharisäer, die Sadduzäer paktieren mit dem Statthalter; Herodes Antipas regiert von Kaisers Gnaden, und Pilatus hält in Cäsarea Hof.
Matthäus und Lukas überliefern, dass Jesus die Städte Galiläas verflucht, weil sie „sich nicht gebessert“ hätten – auch Kapernaum: „Die du bis an den Himmel erhoben bist, du wirst in die Hölle hinuntergestoßen werden!“ Und in seiner Heimatstadt Nazareth wundern sich seine ehemaligen Mitbürger über den Zimmermannssohn, der nun predigt – und werfen ihn dann aus der Synagoge.
Irgendwann im Frühjahr des Jahres 30 fasst Jesus den Entschluss, zum Passahfest nach Jerusalem zu ziehen. Vielleicht ist dies die konsequente Entwicklung seines Wirkens, von der Provinz zum Zentrum des Glaubens. Womöglich aber ist dies nichts als die Verzweiflungstat eines Mannes, der in seiner Heimat gescheitert ist.
Ende März des Jahres 30 bricht Jesus auf. Die Datierung ist einigermaßen klar – eindeutiger zumindest als alles andere im Leben Jesu. Er wird, berichten die Evangelien, am Tag vor Sabbat gekreuzigt, während der Vorbereitungen zum Passahfest. Die Angaben sind zum Teil widersprüchlich, doch viele Indizien deuten darauf hin, dass in jenem Jahr das Passahfest genau auf einen Sabbat fällt, die Kreuzigung also unmittelbar davor stattfindet.
Das Passahfest wird am 15. Nisan gefeiert. Die Daten des jüdischen Mondkalenders wandern durch den heute gebräuchlichen Sonnenkalender, ändern sich also von Jahr zu Jahr. In der fraglichen Zeit fällt der 15. Nisan nur zweimal auf einen Sabbat, und zwar in den Jahren 30 und 33. Da Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein Jahr wirkte, kann allein das frühere Datum stimmen. Der 15. Nisan 30 fällt auf den 8. April – so lassen sich die letzten Tage Jesu recht genau bestimmen.
Nach vier oder fünf Tagen wird er die mit Pilgern überfüllte Metropole erreicht haben. Er steigt in einem Rasthaus in Bethanien ab, einem Ort östlich hinter dem Ölberg, knapp drei Kilometer von Jerusalem entfernt.
Die biblischen Berichte sind voller Todesahnungen Jesu. Doch fast alle Forscher vermuten heute, dass diese Worte erst von den Evangelisten hineingeschrieben worden sind. Tatsächlich habe er in Jerusalem Schwierigkeiten mit den Priestern und Pharisäern erwartet, nicht aber sein Ende.
Andererseits wirken seine Taten kurz darauf wie eine Bewerbung zur Hinrichtung: Denn am 5. April des Jahres 30, drei Tage nach seinem Einzug in Jerusalem, provoziert Jesus im Tempel, dem Allerheiligsten des jüdischen Volkes, einen Aufruhr – ausgerechnet kurz vor dem höchsten jüdischen Feiertag und unter den Augen der römischen Besatzer.
Der Tempel, dessen Bau Herodes der Große begonnen hat, ist ein künstlicher Monolith aus hellen, behauenen Steinen, in denen die Sonne je nach Tageszeit immer neue Reliefs zaubert (Bilder sind, getreu einem Gebot Gottes, tabu). Am Südrand des Plateaus, das sich aus dem Häusermeer Jerusalems erhebt, führen Treppen nach oben, im Westen gelangen die Priester und Adeligen von ihren Residenzen in der Oberstadt über eine arkadenförmige Brücke direkt zum Tempelbezirk – erhöht und abgetrennt vom einfachen Volk. Das mit Vorhängen abgetrennte Allerheiligste ist von einem Kranz säulengeschmückter Höfe umgeben. Der große Vorhof ist auch den Heiden zugänglich, dahinter liegen die Bezirke – getrennt nach Frauen, Männern, Priestern –, die den Juden vorbehalten sind (siehe auch GEO Nr. 2/2004).
Selbst die Römer respektieren diesen Ort. An den Tempelschranken ziehen Inschriften in Griechisch und Latein jedem Nichtjuden unmissverständlich die Grenze: „Kein Fremder darf die Schranke und die Höfe um den Tempel betreten. Wer auch immer (es dennoch tut) und ergriffen wird, der hat sich selbst den Tod zuzuschreiben, der darauf folgen wird.“
Im Vorhof der Heiden haben Händler und Geldwechsler ihre Stände aufgeschlagen, wahrscheinlich einfache Tische, Buden und Zelte aus ein paar Brettern und Stoffbahnen. Die Händler sind für den Tempel fast so wichtig wie die Priester. Denn nur in Jerusalem können vor Gott gültige Opfer vollzogen werden – und bei den Händlern im Hof können Lämmer und andere reine Opfertiere erworben werden. Da täglich morgens und nachmittags geopfert wird, sind ständig Gläubige hier, die Tiere kaufen, um sie Priestern zu übergeben, welche die Tiere schlachten und auf die Flammen des Altars legen.
Ohne Händler keine Opfer. Ohne Opfer kein Kult.
Die Einzelheiten jenes Tages bleiben unklar. Doch Jesus muss an jenem 5. April irgendwann im Strom der Pilger auf den Tempelplatz gestiegen sein, vermutlich umgeben von seinen galiläischen Anhängern. Und dort stößt er die Buden und Tische der Händler und Geldverleiher um. Niemand weiß, wie viele von ihnen er ins Chaos stürzt und wie er aus dem Aufruhr aus umherirrenden Tieren, fluchenden Händlern und zornigen Pilgern wieder entkommt.
Diese von den Evangelisten überlieferte „Reinigung“ des Tempels haben Christen später so verstanden, dass Jesus den Tempel vom profanen Mammon gereinigt habe. Doch die Händler sind tatsächlich keinesfalls Vertreter weltlichen Kommerzes, sondern notwendig für den religiösen Kult. Indem Jesus sie angreift, greift er das Herz des Tempels an. Das ist keine Reinigung, das ist ein Akt des Niederreißens, ein prophetisches Zeichen, dass das Ende dieses Tempels und seiner Rituale gekommen und das Reich Gottes nah sei. Eine Tat, welche, anders als die Predigten, Gleichnisse und Wunder, von den Priestern nicht länger ignoriert werden kann.
Jesus wird urplötzlich zur Gefahr für die Sadduzäer. Sie stellen den Hohepriester; ihre Autorität gründet sich auf den Tempelkult – und auch ihr Vermögen. Denn die kultisch begründete Tempelsteuer bringt Geld. Was Jesus an jenem Tag unternimmt, ist auch ein Frontalangriff gegen die Elite des Judentums.
Mit dem Angriff auf die Tempelhändler besiegelt Jesus sein Schicksal – nicht etwa mit seiner Lehre, nicht mit der Bergpredigt und der Erweckung von Toten, nicht mit Gleichnissen und der provozierenden Ablehnung von vielen althergebrachten Bräuchen. Erst mit diesem Akt kaum 48 Stunden vor Beginn des Passahfestes macht er sich den Hohepriester Kaiphas zum Todfeind. Hätte er diese eine Provokation unterlassen, Jesus wäre vielleicht nie gekreuzigt worden – und seine Lehre, sein Wirken, seine Person wären möglicherweise längst vergessen.
Kaiphas und Pilatus sind ein seit Jahren eingespieltes, machtbewusstes Tandem. Kaiphas aus Beth Meqoschesch hat Karriere gemacht, weil er einst die Tochter eines Hohepriesters heiratete. Seit zwölf Jahren hat er selbst das höchste religiöse Amt inne.
Im November 1990 ist bei Arbeiten im Friedenswald, südlich der heutigen Jerusalemer Altstadt, das Grab der Kaiphas-Familie entdeckt worden. Der israelische Archäologe Zvi Greenhut und der Anthropologe Joe Zias untersuchten das im ersten nachchristlichen Jahrhundert immer wieder zu Bestattungen genutzte Grab mit Blick auf den Berg Zion. Sie entdeckten insgesamt 63 Skelette, verteilt auf zwölf Ossuarien – aus Kalkstein geschnittene Särge, in denen die Juden einst die Knochen ihrer Toten beisetzten, nachdem das Fleisch verwest war.
Ein durch extravagante Blütenmuster geschmücktes Ossuarium, eines der feinsten, die je entdeckt worden sind, trägt den Namen des Kaiphas selbst. In ihm bargen Greenhut und Zias die Skelette dreier Kinder, eines männlichen Jugendlichen, einer erwachsenen Frau und eines Mannes von rund 60 Jahren – wahrscheinlich die Knochen des Hohepriesters.
Pontius Pilatus ist seit dem Jahr 26 Praefectus Iudaeae. Er ist ein eques, ein Ritter, Angehöriger der zweithöchsten römischen Gesellschaftsschicht. Einer seiner Vorfahren gehörte zu den Verschwörern, die Julius Cäsar an den Iden des März umbrachten. Er residiert in einem Palast im Küstenort Cäsarea und begibt sich nur zu besonderen Anlässen nach Jerusalem – etwa zum alljährlichen Passahfest.
Pilatus gilt als unnachgiebig, bestechlich, gewalttätig, hart, räuberisch und grausam. Überliefert ist, dass er vergoldete Feldzeichen der Soldaten nach Jerusalem bringen lässt. Dort erregen die verhassten Abbilder des Kaisers den Zorn der Menge so sehr, dass Protestierende in Cäsarea sich erbieten, lieber alle hingerichtet zu werden, als diese Bildnisse in Jerusalem zu dulden. Schließlich gibt Pilatus nach. Überliefert ist auch, dass er in seiner Amtszeit mindestens einen Aufstand blutig unterdrücken lässt und ein Massaker anordnet.
Pilatus wird im Jahr 36 wegen fortgesetzter Gewalttätigkeiten von seinem Posten abberufen und nach Rom zitiert, wo ihm der Prozess droht. Doch ehe er sich verantworten muss, stirbt der Kaiser. Danach scheint das Verfahren im Sande verlaufen zu sein – und Pilatus verschwindet aus der Geschichte.
Kaiphas verliert ebenfalls im Jahr 36 sein Amt (es sind die Römer, die bestimmen, wer in Jerusalem Hohepriester wird) – ein Indiz dafür, wie eng die Schicksale dieser beiden Männer miteinander verwoben sind.
Nach dem Affront im Tempel wird es wohl Kaiphas sein, der Jesus ausschalten will, denn diese Aktion richtet sich direkt gegen ihn. Todesurteile aber kann nur Pilatus verkünden. Wieso Jesus nicht sofort verhaftet wird – schließlich bewachen Trupps der jüdischen Tempelpolizei das Heiligtum –, ist nicht klar. Möglicherweise kann er im Durcheinander entkommen, möglicherweise zögert Kaiphas, ihn in aller Öffentlichkeit zu verhaften, weil er in der erhitzten Atmosphäre Jerusalems einen Aufstand befürchtet.
Andererseits muss Jesus seit dieser Tat klar sein, dass ihm der Tod droht. Im Gasthof von Bethanien, in dessen Obergeschoss er mit seinen Jüngern das letzte Mahl einnimmt, spricht er Worte, die der Theologe Jürgen Roloff die „am häufigsten wiederholten, am meisten umrätselten und am dichtesten interpretierten der Menschheitsgeschichte“ genannt hat. Was Jesus wirklich erzählt, was er prophezeit oder angeordnet haben mag, lässt sich nicht mehr im Detail klären – zu dicht, zu sehr von späteren Interessen geleitet sind die Übermalungen, die eingefügten Texte der Evangelisten.
Klar scheint nur zu sein, dass Jesus im Angesicht des Todes seine Jünger auf einen Bund einschwört und ihnen die baldige Herrschaft Gottes voraussagt. Klar ist zudem, dass Jesus nicht einen Augenblick daran denkt, nach Galiläa zurückzukehren und dort abzuwarten, bis sich die Aufregung in Jerusalem gelegt hat. Stattdessen geht er noch einmal in den Garten Gethsemane im Kidrontal östlich des Tempels, um zu beten. Dort wird er von einem Trupp der Tempelpolizei verhaftet. Es ist Mitternacht. Noch 15 Stunden.
Vielleicht ist Verrat im Spiel. Vielleicht hat Judas ihn tatsächlich an den Hohepriester für 30 Silberlinge verkauft oder aus Enttäuschung verraten. Vielleicht sind dessen Dienste notwendig gewesen, damit die Tempelpolizei weiß, wo sie Jesus zu suchen hat; vielleicht sogar, wen sie suchen muss: Ist der Judaskuss nicht ein Indiz dafür, dass Jesus selbst jetzt noch bei den Menschen von Jerusalem so unbekannt ist, dass man Helfer braucht, um ihn zu identifizieren?
Der Gefangene wird sofort zu Kaiphas geschleppt, entweder zum Anwesen des Hohepriesters in der Oberstadt oder zum Versammlungshaus des Synhedrions in der Nähe des Xystos-Platzes. Hier warten Kaiphas und zumindest ein Teil des 71 Köpfe zählenden Synhedrions – des jüdischen Hohen Rates aus Priestern, Adeligen und Gelehrten, der beherrscht ist von Sadduzäern, auch wenn einige Pharisäer dazugehören.
Kaiphas muss die Affäre schnell hinter sich bringen. Wenn am Abend dieses gerade angebrochenen Tages Posaunen erschallen, werden sie den Beginn des Sabbats anzeigen – und den Beginn des Passahfestes. Hinrichtungen gelten danach als kultisch unrein. Doch das Synhedrion darf in Kapitalverbrechen keine Urteile sprechen. Also lässt der Hohepriester eine Anklageschrift vorbereiten. Diesem Ziel allein dient das Verhör, in dem Jesus dazu gebracht wird, sich als Messias zu bekennen oder zumindest nicht zu leugnen, dass er es sei.
Ein paar Stunden später wird er von der Tempelpolizei vermutlich zum Herodes-Palast am heutigen Jaffa-Tor geschleppt, wo Pilatus residiert. Der Vorwurf in der Anklageschrift ist nicht religiöser, sondern politischer Natur: Aufruhr gegen Rom.
Die römischen Magistrate sitzen meist am frühen Morgen zu Gericht. Also wird auch Jesus wohl schon beim ersten Dämmerlicht gefesselt vor Pilatus stehen – wahrscheinlich auf dem Vorplatz des Palastes, in dem Pilatus auf dem bema sitzt, dem Richterstuhl. Römische Bürger können gegenüber den Urteilen von Magistraten beim Kaiser appellieren, für die Untertanen ohne dieses Privileg dagegen ist die erste zugleich die letzte Instanz. Auch für Jesus.
Die Evangelisten, die als Einzige über diesen Tag berichten, haben später den Prozess aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer klaren Intention wiedergegeben: Pilatus wird da als zögernder Richter gezeichnet, der seine Hände in Unschuld wäscht, der Jesus gar am liebsten per Amnestie freigelassen hätte. Und es seien „die Juden“ gewesen, die auf dem Todesurteil bestanden hätten.
Doch so ist es wahrscheinlich nicht gewesen. Denn als Markus und dessen Nachfolger ihre Texte schrieben, hatten sich die Christen gerade vom Judentum gelöst und waren zu dessen Gegnern geworden, während sie zugleich eifrig neue Anhänger unter den Heiden warben – also auch unter den Römern, ebenjenen, die Jesus letztlich auf die Richtstätte gebracht hatten.
Tatsächlich wird Pilatus, wie unzählige Male davor und danach, auch diesmal im wahrsten Sinne des Wortes kurzen Prozess gemacht haben. Er spricht Jesus wohl der seditio (des Aufruhrs) oder der perduellio (des schweren Landfriedensbruches) schuldig. In jedem Fall wird der letzte Satz, den Jesus von Pilatus vernimmt, die Formel gewesen sein: „Du wirst das Kreuz besteigen.“
Jesus wird danach sofort, wie es römischer Brauch ist, von den Soldaten des Exekutionskommandos abgeführt. Sie dürfen seine Kleidung behalten; sie verspotten den Verurteilten; sie geißeln ihn mit dem horribile flagellum – einem Lederriemen, der mit Knochenstücken, Stacheln oder Bleiklumpen bestückt ist und tiefe Wunden reißt.
Blutüberströmt und nackt wird er anschließend, mit zwei weiteren Verurteilten, durch die Gassen Jerusalems getrieben. Er trägt den Kreuzbalken. Vor ihm hat ein Soldat den titulus aufgepflanzt, jenes Schild, auf dem das Verbrechen des Delinquenten verkündet wird: INRI, „Jesus von Nazareth, König der Juden“. Vom Palast wird es wohl durch die Oberstadt gehen, hinaus am Gennath-Tor beim Hippikus-Turm, bis nach Golgatha, der „Schädelstätte“ – einer Hügelkuppe inmitten eines alten Steinbruchs nördlich der Stadt.
Hinrichtungen sind Spektakel, an denen das Volk mit wollüstigem Schrecken teilnimmt – es gibt kein Indiz dafür, dass es diesmal anders gewesen sein könnte. Anhänger wird Jesus kaum gesehen haben. Wenige Frauen sind bei ihm, stehen zumindest später in der Nähe des Kreuzes, unter ihnen Maria Magdalena. Die Jünger aber sind alle geflohen. (Und es bleibt ein Rätsel, warum Pilatus und Kaiphas, da sie Unruhen befürchten, nicht auch diese rechtzeitig verhaften und exekutieren lassen.) Es ist, berichtet Markus, etwa 9 Uhr morgens, als Jesus ans Kreuz genagelt wird.
Die Kreuzigung ist die entehrendste, die schändlichste, die qualvollste Todesstrafe im römischen Recht. So werden Verbrecher und Sklaven hingerichtet. Das Kreuz ist kaum höher als der Delinquent: ein kreuz- oder T-förmiges Gerüst, an welches das Opfer gebunden oder genagelt wird.
Im Juni 1968 entdeckte der israelische Archäologe Vassilios Tzaferis in Jerusalem das Grab einer wohlhabenden Familie aus dem ersten nachristlichen Jahrhundert – zu der aber auch ein Verbrecher oder Aufständischer gehört haben muss. Denn das Skelett eines Mannes namens Jehochanan (er muss Mitte 20 gewesen sein) zeigte Spuren einer Kreuzigung: In seinem rechten Fersenbein steckte noch ein rund elf Zentimeter langer Eisennagel, dessen Kopf mit einer Holzplatte verbreitert worden war.
Tzaferis vermutet, dass Jehochanan ans Kreuz genagelt wurde. Die Platte unter dem Nagelkopf sollte dafür sorgen, dass der Delinquent seine Füße nicht von dem Nagel reißen konnte. Doch als nach dem Tod die Leiche abgenommen wurde, löste sich der Nagel nicht aus dem Knochen, denn er hatte sich im harten Olivenbaumholz des Kreuzes beim Einschlagen so verbogen, dass er nun wie ein Widerhaken geformt war. Also bestattete seine Familie den Hingerichteten mitsamt dem Nagel, der noch immer im Fuß steckte, der Holzplatte und einem abgesägten Teil des Kreuzes. Da die Arme und Hände Jehochanans andererseits unverletzt blieben, vermutet Tzaferis, dass sie an die Querbalken gebunden worden waren.
Doch ob gebunden oder genagelt: Das Qualvollste an der Kreuzigung ist nicht die Befestigung am Gerüst, sondern die ausgestreckte Haltung. Das Opfer muss sich mit den gefesselten oder genagelten Beinen irgendwie abstützen, denn mit seinen weit ausgestreckten Armen wird es ersticken, sobald der Körper nach unten absackt.
Der Todeskampf – jenes verzweifelte Wechselspiel von Erschöpfung, die den Körper nach unten sacken lässt, und Ersticken, das ihn sich wieder aufbäumen lässt – kann stunden-, manchmal tagelang dauern. Es gilt als Akt der Gnade, wenn die Wachsoldaten, der Warterei schließlich überdrüssig, dem Gekreuzigten die Beinknochen zerschlagen, so dass er hilflos absackt und nach einigen Minuten erstickt.
Jesus hält sechs Stunden durch. Es gibt Augenzeugen für sein Sterben: die Wachmannschaft auf Golgatha, vielleicht Schaulustige auf der Jerusalemer Mauer, von der aus man einen guten Blick auf die Gekreuzigten hat, und schließlich Maria Magdalena und andere Frauen aus seiner Anhängerschaft. Sie allein sind die einzigen Gläubigen, die bis zuletzt bei ihm sind. Sie sind es auch, die Jesus plötzlich rufen hören: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist kein Zeichen der Verzweiflung, sondern der Anfang des Psalms 22, eines jüdischen Sterbegebets.
Doch ihm fehlt schon die Kraft, um es noch zu vollenden. „Aber Jesus schrie laut und verschied“, berichtet Markus lakonisch. Es ist ungefähr 15 Uhr am 7. April 30.
Hätte Jesus noch 20 Jahre weiter gepredigt und Wunder getan – gut möglich, dass er heute längst vergessen wäre. Wäre er hingerichtet und verscharrt worden – gut möglich, dass sich seine Anhängerschaft zerstreut hätte wie die Johannes des Täufers, dessen Bewegung mit seinem Tod endete. Doch was jetzt, nach der Kreuzigung, geschieht, wird zum Gründungsmythos einer neuen Weltreligion.
Meist bleiben Gekreuzigte im Römischen Imperium hängen, den Raben zum Fraß, dem Volk als abschreckendes Beispiel. Selbst die Würde eines eigenen Grabes wird ihnen verwehrt – nur nicht in Judäa. Unbestattete Leichname, glauben die Juden, verletzen die Reinheit des Landes. Nicht aus Mitleid mit den Toten, sondern aus Sorge um die kultische Reinheit werden auch Verbrecher schnell beerdigt.
Die Evangelien berichten, dass Joseph von Arimatäa, ein frommer Jude und Mitglied des Synhedrions, bei Pontius Pilatus die Freigabe des Leichnams erbittet. Das Grab des Joseph von Arimatäa liegt bei Golgatha, wahrscheinlich eine in den Felsen gehauene Kammer, die mit einem Stein verschlossen wird. Hier wird Jesus ohne besondere Zeremonie beigesetzt, noch ehe die Posaunen den Sabbat verkünden.
Am frühen Morgen des 9. April dann nähern sich Maria Magdalena und wahrscheinlich zwei oder drei weitere Frauen dem Grab, denn sie wollen den Toten nun, nach dem Sabbat, mit Ölen salben. Das Grab aber ist leer.
Was ist an jenem Morgen des 9. April 30 geschehen? Dass etwas geschehen sein muss, ist unbestritten, denn ohne Auferstehung gäbe es kein Christentum. Erst dieses selbst die antike Gläubigkeit sprengende Wunder ist so etwas wie der Urknall des Christentums, sein Anfang, seine Begründung und Legitimation: Jesus hat den Tod überwunden, und wer ihm folgt, dem wird dies auch gelingen. Was für eine grandiose Hoffnung!
Doch worauf beruht sie?
Die Evangelien liefern, wie so oft, widersprüchliche Berichte. Jesus sei den Jüngern in Jerusalem erschienen oder auf dem Weg zum Dorf Emmaus oder in Galiläa (und habe dort sogar Fisch mit ihnen verspeist). Oder: Von den Jüngern hätten ihn zuerst zwei gesehen, deren Namen niemand nennt. Oder: Nur Petrus habe ihn getroffen. Allen Überlieferungen gemeinsam ist nur, dass es die Frauen um Maria Magdalena sind, die das leere Grab entdecken.
Haben einige Anhänger Christi den Leichnam heimlich irgendwo anders verscharrt, um mit dem Wunder des leeren Grabes die Schmach der Kreuzigung wettzumachen? Um auch weiterhin um Gläubige zu werben?
Eher unwahrscheinlich, denn es ist offensichtlich, dass Petrus und die anderen tatsächlich an die Wiederauferstehung glauben – und bereit sind, dafür in den Tod zu gehen. Wer aber würde um einer selbst fabrizierten Fälschung willen zum Märtyrer werden?
Gegen diese Version spricht auch, dass es Frauen sind, die das leere Grab entdecken. Das Zeugnis einer Frau gilt im Judentum viel weniger als das eines Mannes. Hätte jemand betrügen wollen, er hätte dafür gesorgt, dass ein Mann das leere Grab bezeugt hätte.
Ist Jesus vielleicht gar nicht tot, als er vom Kreuz genommen wird? Schließlich hing er „nur“ sechs Stunden und wird wohl eilig begraben. Hat man da in der Hast vielleicht nicht bemerkt, dass er noch atmet? Verschwindet also aus dem Grab kein Toter, sondern ein Lebender? Doch wie hätte Jesus mit zernagelten Füßen nach Emmaus wandern oder geschunden, wie er war, am See Genezareth Fische verspeisen können?
Die Theologen Gerd Lüdemann und Alf Özen halten es für möglich, dass Petrus, der Jesus verlassen hat, von Schuld und Trauer zermürbt ist und plötzlich in einer glorreichen Vision Trost findet – einer Vision, in der ihm Jesus leibhaftig erscheint. Allerdings hätten neben Petrus dann noch andere Anhänger exakt diese psychologische Disposition aufweisen müssen, denn der Fischer ist nicht der Einzige, der fortan verkündet, ihm sei Jesus erschienen.
Für Wissenschaftler, die wissen und nicht glauben wollen, bleibt die Auferstehung letztlich rätselhaft. Denn auch sie müssen erkennen, dass Petrus und viele andere Anhänger Jesu von dessen Auferstehung überzeugt sind – so überzeugt, dass sie dafür sogar zum Sterben bereit sind.
Erst die Auferstehung macht aus ihnen Christen. Nichts, das Jesus sie gelehrt hätte, kein Wunder, das er in ihrem Beisein wirkte, kein Gleichnis überwältigt sie so wie dieses Ereignis. Als er noch lebte und verhaftet wurde, da sind sie geflohen und wären vielleicht nie wieder zusammengekommen. Doch nun, nach der Auferstehung, versammeln sie sich wieder, organisieren sich und ziehen missionierend umher.
20 Jahre später existiert eine erste christliche Gemeinde in Rom, sind die Gläubigen aus einer Randregion des Reiches im Herzen des Imperiums angekommen. Später helfen ihnen die Evangelien bei ihrer Mission im Römischen Reich. Die Juden, von denen sich die Christen nun absetzen wollen, werden in diesen Überlieferungen geschmäht – obwohl Jesus doch selbst Jude war. Die Römer dagegen, deren Seelen die Christen gewinnen wollten, werden entlastet – obwohl Jesus von ihnen gekreuzigt wurde. Und seine Geburtsgeschichte wird verändert, damit Jesus als Mann aus Bethlehem und damit Erfüller alter Prophezeiungen galt – obwohl er doch aus Nazareth stammt.
Die Änderungen sind zahlreich, manchmal grob, manchmal subtil, letztlich erfolgreich. Nicht mit dem historischen Jesus gewinnen die Christen neue Anhänger, sondern mit dem Jesus der Evangelien.
Und doch schimmert selbst heute, nach fast zwei Jahrtausenden, noch etwas vom Staunen, von der Hoffnung, vom Glauben derjenigen durch, die ihm noch zu Lebzeiten begegnet sind – und auch von jenem Schauder, jenem namenlosen Schrecken, den einer erzeugt, dessen Wesen wir nicht zu ergründen vermögen.
Markus etwa endet mit einem hoffnungsvollen Bericht von der Erscheinung des Auferstandenen und seiner Himmelfahrt. Doch in den frühesten Handschriften dieses ältesten der Evangelien fehlen diese Verse – offensichtlich sind sie später eingefügt worden, um den Text zu glätten, ihn den anderen Evangelien anzupassen. Denn eigentlich endet die Geschichte bei Markus mit dem offenen Grab: Maria Magdalena und zwei anderen Frauen verkündet dort „ein Jüngling, der ein langes, weißes Kleid anhatte“, dass Gott Jesus vom Tod erweckt habe. Doch rätselhaft und dunkel ist dann das ursprüngliche Ende der „Frohen Botschaft“: „Und sie gingen schnell heraus und flohen von dem Grabe; denn es war sie Zittern und Entsetzen angekommen; und sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich.“