3. DIE MACHTHABER

Und dann kam die große Zeit: die Zeit der Erinnerung an die Flucht aus Ägypten, an den Bund, den GOTT selbst mit SEINEM auserwählten Volk geschlossen hatte. Es war das heiligste und größte religiöse Fest und würde es auch für alle Zeiten bleiben. Voller Vorfreude bereiteten sich alle gläubigen Juden auf diese Feier vor. Die Stadt Jerusalem schwoll auf das dreifache der normalen Einwohnerzahl an. Überall lagerten Pilger, die die heiligen Tage in Gottes eigener Stadt verbringen und im Tempel opfern wollten.
Vielen erschien es naheliegend, dass an diesem heiligen Fest etwas Außergewöhnliches geschehen würde. Das ganze Jahr über wartete das Volk auf den Boten Gottes und er war nicht gekommen. Aber: wenn nicht zum Pessach, wann denn dann? Diese Erwartung erfüllte viele gläubige Herzen.
Die Folge davon war, dass es regelmäßig zum Fest Aufstände gab, die genauso regelmäßig und brutal von den römischen Truppen niedergeschlagen wurden. Pilatus schien sich einen Spaß daraus zu machen, jeden Anschein von Aufruhr und Widerstand im Keim zu ersticken und ganz besonders freute es ihn, wenn er dadurch dem Synhedrion, dem obersten Rat der Juden, eine Lektion erteilen konnte: je brutaler er durchgriff, je mehr Terroristen er kreuzigen ließ, desto deutlicher führte er dem jüdischen Volk die Abhängigkeit von der römischen Gnade und die Hilflosigkeit der eigenen Obrigkeit vor Augen.
Pilatus war nicht glücklich mit seiner Position. Er, als römischer Bürger und dazu noch als Statthalter des römischen Kaisers, sozusagen der Stellvertreter des mächtigsten Mannes der Welt, allen anderen unbeschreiblich überlegen, war umgeben vom rückständigsten und dumpfesten Aberglauben, den er sich nur vorstellen konnte. Damit aber noch nicht genug: dieser primitive jüdische Pöbel war dermaßen widerspenstig, dass eine Versetzung auf diesen Posten einer Strafmaßnahme gleichkam. All das hatte sich in Pilatus zu einer kaum noch steigerbaren Abneigung  gegenüber den Juden verfestigt. Er war der festen ÜÜberzeugung, dass er hier nur überleben  konnte, indem er  täglich die Übermacht und den Glanz der römischen Kultur verdeutlichte. Dabei spielten  Menschen- leben keine Rolle. Er hatte im Laufe seiner kurzen Amtszeit schon mehrere tausend Juden kreuzigen lassen, auf einen mehr oder weniger kam es Pilatus nicht an.
Die Kreuzigung hatte auch den Vorteil, dass sie in den Augen der Juden besonders provokativ wirkte: die Verurteilten ließ Pilatus gerne so lange hängen, bis sie, manchmal nach tage- oder wochenlangem Todeskampf, an Erschöpfung verendeten und dann regelrecht vom Kreuz abfaulten. Für das merkwürdige jüdische Selbstverständnis, „Ebenbild Gottes“ zu sein, war der Anblick des Sterbenden und Verwesenden am Kreuz schier unerträglich. Das bereitete Pilatus eine zusätzliche Genugtuung.
Hinzu kam nach jüdischem Verständnis noch, dass einer, der am Holz hängt, „ein von Gott Verfluchter“ sei. Er hat nämlich keine Berührung mehr mit dem Boden und auch keine mit dem Himmel. Er hängt sozusagen dazwischen. Pilatus fand diese Interpretation zwar sehr merkwürdig und weit hergeholt – aber so waren die Juden eben. Er konnte sich jedenfalls diese Auffassung nutzbar machen, indem er die Kreuzesstrafe auf jede Form von Terrorismus, Aufstand, Aufwiegelei aussetzte. Darunter war übrigens schon zu verstehen, wenn jemand ein Schwert besaß oder es gar mit sich führte.
Wurde ein solcher Terrorist, „Messias“ , wie ihn die Juden nannten, gekreuzigt, dann war sein Anspruch, ein „von Gott Gesandter“ zu sein, endgültig und unüberbietbar widerlegt. Die Gruppe, die sich um einen solchen Menschen gesammelt hatte, löste sich auf. Ein sehr angenehmer Nebeneffekt für den römischen Machthaber.
Ein Problem aber hatte Pilatus und für ihn war dies ein sehr großes Problem:
Er musste mit dem sogenannten „Synhedrion“ zusammenarbeiten. Dieses Gremium bestand aus Mitgliedern der jüdischen Oberschicht, aus Priestern, Sadduzzäern, Pharisäern und  Schriftgelehrten.  Aus irgendeinem   Grund hatte der Kaiser den Juden vor einiger Zeit Privilegien eingeräumt, die ihnen die Ausübung ihrer Religion ermöglichen sollte. So respektierte er zum  Beispiel   ihren abergläubischen  Ein – Gott – Glauben und entband sie von der Verpflichtung, den römischen Kaiser als Gottheit zu verehren. Außerdem konnten sie Richter einsetzen, die die normalen Strafsachen aburteilten. Kapitalverbrechen, das hieß: die Blutgerichtsbarkeit, blieb allerdings dem römischen Statthalter vorbehalten. Über diese kleinen Freiheiten wachte das Synhedrion, und vor allem der so genannte „Hohe Priester“, eifersüchtig und kompromisslos. Überdies verstanden es diese Politpriester ganz aus-gezeichnet und unübertroffen, jede noch so kleine Schwäche des Statthalters auszunutzen und sie scheuten sogar nicht davor zurück, sich beim Kaiser über ihn zu beschweren. Und sie bekamen sogar recht. Als Pilatus zum Beispiel eines Tages Standbilder mit dem Abbild des Kaisers nach Jerusalem bringen ließ, um den Kaiser zu ehren und dem Volk die Bedeutung der Weltgemeinschaft des Römischen Reiches zu verdeutlichen, da empfanden die Juden das als einen Verstoß gegen die Abmachung und forderten Pilatus auf, die Bilder wieder zu entfernen.
Das erweckte in Pilatus natürlich den Stolz des römischen Bürgers und Statthalters des Kaisers: Was bildeten denn diese Juden sich ein, dass sie ihn (!!) zu etwas auffordern wollten!? Er ließ also die Delegation ins Gefängnis werfen und als daraufhin Proteste einsetzten, ließ er seine Soldaten auf die Menge los. Die Folge waren Hunderte von Toten.
Aber: nicht etwa, dass diese störrischen Juden aufgegeben hätten. Nein. Ohne dass Pilatus es merkte, hatten sie eine Delegation zum Kaiser geschickt und sich über Pilatus beschwert. Sie hatten sich über ihnbeschwert! Was für eine Unverschämtheit! Aber noch tiefer wurde Pilatus dadurch getroffen, dass der Kaiser ihnen Recht gab und er die Standbilder wieder aus Jerusalem entfernen musste. Nur durch seinen Einfluss und durch geschicktes politisches Taktieren gelang es Pilatus damals, im Amt zu bleiben. Er hatte durchaus die Strafe des Kaisers erwarten müssen.

Diesen Vorfall vergaß Pilatus den Juden nie. Aber er war auch gewarnt. So war die „Zusammenarbeit“ mit dem Synhedrion dadurch geprägt, dass Pilatus versuchte, sich an die Abmachung zu  halten, dass  er  aber bei  jeder  sich bietenden  Gelegenheit (siehe oben) demonstrierte, wie machtlos die Juden in ihrem eigenen Land waren.
Im Synhedrion dagegen war die Last der Verantwortung täglich fast mit den Händen zu greifen. Die Mitglieder dieses Rates waren  angesehene jüdische  Bürger der Oberschicht, die sich  in ihrem Land ihrem Volk und ihrer Religion verpflichtet fühlten. Selbstverständlich gab es, wie in jedem politischen Gremium, auch ehrgeizige Emporkömmlinge, denen persönliche Anerkennung und Bereicherung über alles ging. Zudem gab es auch tiefe religiöse Auseinandersetzungen und kaum zu überbrückende Gräben zwischen den einzelnen Gruppen:
So lehnten die Sadduzzäer zum Beispiel den Glauben an ein Leben nach dem Tod ab und machten sich darüber lustig, während die Pharisäer diesen Glauben bejahten und die Ignoranz der anderen beklagten.[1]
Der Hohe Priester, Kajaphas, war ein ausgesprochen geschickter Taktiker. Er schaffte es, mehr als siebzehn Jahre lang auf seinem Posten bestätigt zu werden. Das hatte vor ihm noch niemand geschafft und so sollte es auch später bleiben. Irgendwie vollbrachte er das Kunststück, die gegenseitigen Interessen abzuwägen und einen Kompromiss zu finden.
Meistens jedenfalls.
Oft musste er dabei allerdings auch dicke Kröten schlucken, denn letztlich saß Pilatus am längeren Hebel. Und er schaffte es immer wieder, den Hohen Rat zwischen sich und das Volk zu schieben,  so dass  bei  vielen unpopulären  Entscheidungen ein Teil des Volkszornes am Synhedrion hängen blieb. Allerdings hatten die 71 Mitglieder dieses Gremiums immer noch einen gewissen Einfluss, sie verfügten über hohe finanzielle Mittel und sie befehligten die starke Tempelpolizei, die, besonders in religiösen Fragen oder wenn jemand den Tempel attackierte, keinen Spaß  verstand. Diesen Einflussbereich, diesen Freiraum, achtete auch Pilatus, denn es konnte nicht in seinem Interesse liegen, auf dieses wichtige Kontrollorgan zu verzichten.

[1] Diese unterschiedliche Auffassung machte sich ja später auch Paulus sehr geschickt zu- nutze, indem er Sadduzzäer und Pharisäer in einen theologischen Streit verwickelte und sich letztendlich dadurch einer härteren Bestrafung entziehen konnte ( Apg. 23, 6 ff.).
Daher sind es auch die Sadduzzäer, die Jesus und den Glauben an ein Leben nach dem Tod ins Lächerliche ziehen wollten ( Mk. 12, 18 – 27). Und letztlich war es sicher auch die Übereinstimmung in dieser zentralen Frage, die einige der Pharisäer zu Sympathisanten Jesu machten.