2. MISSVERSTÄNDNISSE

Mit dieser Klarheit, die sein ganzes Wesen erfüllte, kehrte Jesus nach langer Zeit wieder aus der Wüste zurück. Er ging durch die Dörfer und predigte auf den Plätzen und in den Synagogen. Seine Worte waren noch deutlicher, noch brennender und viele Juden waren von ihm begeistert.
So führte ihn sein Weg auch wieder zurück in sein Heimatdorf, nach Nazareth.
Als er am Sabbat in die Synagoge ging, wurde ihm, wie selbstverständlich, als einer der Söhne des angesehenen Zimmermannes Josef und auch, weil ihm sein Ruf vorausgeeilt war und die Gläubigen sich insgeheim einiges von ihm erhofften, das Ehrenamt angetragen, aus den heiligen Rollen, der Thora, vorzulesen.
Es war aber ausgerechnet diese Textstelle aus dem Buch Jesaja, die er vorlesen sollte:

„Der Geist des HERRN ruht auf mir;
denn der HERR hat mich gesalbt.
ER hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
und den Blinden das Augenlicht gebe;
damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des HERREN ausrufe.“        (Lk. 4, 18 – 19)

Still war es in der Synagoge, als Jesus die Lesung beendet hatte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, denn seine Aufgabe war es nun, diese Worte auszulegen.
Ganz eindeutig, fast körperlich spürbar, erlebte Jesus die Anspruchshaltung der versammelten Gemeinde. Sie wollten etwas erleben, etwas Außergewöhnliches, ein Zeichen vielleicht, ein Wunder. Er sollte derjenige sein, auf den sie, als Väter dieser Gemeinde stolz sein konnten.
Und dann würden alle sehr zufrieden nach Hause  gehen und nichts würde sich bewegen, alles würde seinen gewohnten Gang nehmen.
„Sie haben nichts verstanden,“ dachte Jesus. „Sie hören einen Text, der die Welt verändern, der ihr Herz aufjauchzen lassen müßte und sie warten auf etwas Oberflächliches, auf etwas Sichtbares. Dabei ist das Wunder schon geschehen: Gott hat sich mitgeteilt. Und wer sein Herz offen hat, dem ist sein Augenlicht zurückgegeben. Doch diese Blinden wollen ja gar nicht. Es hat sich nichts geändert.“
So erhob sich Jesus und begann:

„Heute hat sich das Schriftwort, das ihr gehört habt, erfüllt.“
(Lk. 4, 21)

Beifälliges Gemurmel erfüllte den Raum und einige, die immer noch skeptisch waren, wunderten sich, dass Jesus so selbstsicher auftrat und fragten ihren Nachbarn: „Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Leben nicht all seine Schwestern unter uns? Woher hat er nur diese Weisheit?“
Aber Jesus ließ sich nicht durch solche Lobreden irritieren. Er wusste, was sie erwarteten und war auf keinen Fall bereit, sich darauf einzulassen.
„Ihr irrt euch, wenn ihr meint, dass ihr nun ein spektakuläres Wunder erleben werdet.“ sagte er. „Ich habe auch schon in anderen Dörfern in dieser Weise gepredigt und dort wurde ich verstanden. Niemand wollte mich dort vereinnahmen und mich für seine Zwecke missbrauchen. Wenn die Menschen mir zuhörten, dann hatten sie offene Herzen  und damit erlebten  sie diese Welt Gottes. Doch ihr habt Herzen aus Stein und daher wird sich hier auch nichts ändern. Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.“
Er führte noch Gleichnisse und Beispiel an, die an Deutlichkeit nichts zu  wünschen übrig  ließen,  doch die meisten Synagogenbesucher waren schon wütend aufgesprungen. Eine solche Unverschämtheit und eine solche Anmaßung hatten sie noch nie erlebt. Noch während Jesus sprach, drängten sie ihn aus der Tür hinaus und wollten ihn ob dieser Gotteslästerung, denn das sahen sie in den Worten Jesu, vor dem Dorf den Felsen hinunterstürzen.
Nur mit Mühe und mit Hilfe seiner Familie und einiger Freunde, die Jesus immer noch wohlgesonnen waren, gelang ihm die Flucht vor dem wütenden Mob.
Nach diesem Vorfall verließ er seine Heimat und er sollte Nazareth nie wieder betreten.
Jesus hatte Recht: in den anderen Dörfern trat ihm niemand mit dieser Art von Skepsis entgegen, wie sie den Menschen zu eigen war, die ihn von seiner Kindheit an kannten.
Er stieß natürlich immer wieder auch auf Ablehnung, aber ebenso auf begeisterte Zustimmung.
Das ging sogar so weit, dass sich einige seiner Zuhörer ihm auf seiner Wanderung spontan anschlossen und diesmal zog er sich nicht zurück. Sein Weg war klar und er war sich auch seiner Berufung sicher.
Die Zeit war aber auch reif!!
Was hatten sich die Römer – und allen voran der Judenhasser Pilatus – nicht schon alles erlaubt!
Die Gesetze Gottes schienen in SEINEM EIGENEN Land nicht mehr zu gelten. Selbst der jüdische Königshof unter dem römischen Günstling Herodes war zu einer Brutstätte der Ignoranz, der Gewalt und der sexuellen Ausschweifungen verkommen. Der heilige Tempel in Jerusalem, Wohnsitz des EINEN, des HEILIGEN und des UNAUSSPRECHLICHEN, war zu einem Refugium von Händlern und Emporkömmlingen geworden. Die Priester hatten ihren Rückhalt im Volk verloren und schon gab es mehrere   Protestgruppen,  die sich  entschieden  gegen den Jerusalemer Tempelkult wandten  und den Hohen Priester  nicht mehr  anerkannten.   Auch Jesus sparte nicht mit kritischen Tönen gegen das Synhedrion, ganz besonders gegen die buchstabenfrommen Sadduzzäer.
Vielleicht spiegelte sich hier auch noch am deutlichsten seine Wesensverwandtschaft zu Johannes wieder:
„Der Sabbat ist für den Menschen da…“ (Mt. 12, 9 ff.)
„Wehe euch Priestern und Schriftgelehrten…“ (Lk. 11,37 ff.)
„Den Alten wurde gesagt…, ich aber sage euch… (Mt. 5, 22 ff.)

Welche Anmaßung!!
Das blieb in dieser unruhigen Zeit natürlich nicht verborgen, zumal Jesus sich ja auch nicht die geringste Mühe machte, sich selbst zu verbergen oder im Geheimen zu wirken. Er hielt öffentliche Reden, ging in die Synagogen und provozierte damit die konservativen Gläubigen. Mehrmals musste Jesus fliehen und sich verstecken, weil entweder Herodes oder aber die Spitzel der jüdischen Polizei versuchten, seiner habhaft zu werden.
Viele seiner Zuhörer waren der festen ÜÜberzeugung, dass Jesus selbst der Messias sei, der von Gott geschickt war, um endlich die Zeit des Reiches Gottes einzuläuten.
Jesus hat das auch nie ausdrücklich abgestritten.
Allerdings hat er das auch nie direkt von sich behauptet.
Aber das lag wahrscheinlich eher an seiner natürlichen Bescheidenheit.

Auch diejenigen, die ihn auf seiner Wanderung begleiteten, der „harte Kern“ sozusagen, waren davon überzeugt, dass von Jesus entscheidende Veränderungen ausgehen würden. Sie hatten sich ja schließlich auch mit allem, was sie besaßen und was sie waren, auf ihn, seinen Weg und seine Botschaft eingelassen. Alle  aber  lebten in der Nähe von Jesus in großer Lebensgefahr,
denn die Römer reagierten in dieser Zeit sehr sensibel auf jede noch so kleine Form von Unruhe.
Und unruhig wurde es immer, wenn Jesus auftauchte.
Hunderte von Menschen kamen dann zusammen, um ihm zuzuhören. Natürlich stimmten ihm nicht alle Zuhörer zu, nicht wenige hielten ihn für einen Scharlatan, der die Römer unnötig provozierte. Und Jesus trug seinen Teil zur Verwirrung bei, weil er sich nie eindeutig erklärte.
Am deutlichsten bekam das eines Tages Simon zu spüren.
Jesus hatte ihn gefragt, was so über ihn geredet würde, was die Leute von ihm hielten und letztendlich auch, was er, Simon, selbst über Jesus dachte. Aus tiefster Überzeugung antwortete er ihm:
„Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“
Simon war froh, dass er das endlich einmal so klar ausgesprochen hatte.
Und Jesus? Jesus schien sich zu freuen:
„Selig bist du, Simon, Sohn des Jona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel.“
Und, wie als Bestätigung, gab er in dem Moment dem Simon einen symbolischen Beinamen:
„Du bist der Fels, auf den ich mich verlassen will.“
Von dem Tag an wurde Simon nur noch „Felsen“ gerufen.
Um so merkwürdiger war das anschließende Verhalten Jesu: er hatte durchblicken lasen, dass ihm und seinen Freunden in Jerusalem große Gefahren drohen würden, wenn sie zum Pessach dorthin gehen würden. Er ging sogar so weit, von seinem nahen Tod zu reden. Und jeder wußte ja, welche Strafe einem Aufrührer drohte.
Ein solch schändliches Ende ihres Freundes Jesu war für alle, die ihn kannten, unvorstellbar.
So reagierte auch Simon. Er nahm Jesus bei Seite und versuchte, ihn zu beruhigen. Er versicherte ihm die Loyalität seiner Freunde und dass sie schon  auf ihn aufpassen würden. Niemals sollten die Römer oder ihre Helfershelfer Jesus in ihre Hände bekommen. Eher würden sie zu den Waffen greifen. Schließlich konnte ihnen ja nichts geschehen, wenn Jesus wirklich der Messias war.
All das versicherte Simon mit aufrichtigem Herzen. Er wäre zu der Zeit sicherlich gerne bereit gewesen, sein Leben für Jesus aufs Spiel zu setzten. Das tat er ja ohnehin schon allein dadurch, dass er ihn begleitete. Und dann bat er Jesus noch, nicht so pessimistisch von seinem möglichen Tod zu reden, es verunsichere die Leute nur. Und das gerade jetzt, wo die Jesusbewegung sehr erfolgreich war und immer neue Anhänger gewinnen konnte. Sogar einige Pharisäer waren sehr angetan von  dem,  was  sie  von Jesus hörten, denn im Gegensatz zu den Sadduzzäern war diese Gruppe weltoffener, moderner und durchaus aufgeschlossen für neue Ideen.
Die Reaktion Jesu auf diese offenen Worte des Simon war unerwartet, schroff und hart:
„Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Du willst mich zu Fall bringen; denn du hast nicht im Sinn  was  Gott  will, sondern was die Menschen wollen.“ fuhr er seinen ältesten und treuesten Anhänger an.
Petrus wusste zunächst gar nicht, wie ihm geschah. Er hatte es doch nur gut gemeint und wollte Jesus die Sicherheit geben, dass er auf ihn und alle anderen zählen konnte. Sie würden ihn nie im Stich lassen – und wenn sie zu den Waffen greifen müßten.
Und dann eine solche Reaktion.
Nun – so war Jesus eben. Es war ja nicht das erste Mal, dass Petrus nicht verstand, was und warum Jesus so merkwürdig reagierte. Er wusste sicherlich was er tat – darauf musste man vertrauen.
esus hingegen hatte wieder einmal erkennen müssen, dass ihn anscheinend niemand wirklich verstand. Noch nichteinmal seine engsten Vertrauten.
Was weder Petrus, noch irgend jemand anders ahnen konnte, das waren die inneren Kämpfe, die Jesus mit sich und mit Gott im Gebet austrug. Kein Zweifel: Er war auf dem Weg, und dieser Weg war  richtig. Es gab  keinen anderen. Dessen war sich Jesus sicher und die Gewissheit erfüllte ihn mit einer tiefen Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Stärke, die die Menschen faszinierte.
Gleichzeitig merkte Jesus aber auch, dass es offenbar niemanden gab, der  ihn  wirklich  und in  aller  Konsequenz verstand. Alle hielten ihn offenbar für denjenigen, der die Römer vertreiben und die Gottesherrschaft auf der Erde aufrichten würde. Das würde er ja auch gerne tun: die Feindschaft zwischen den Menschen aufheben und das Reich Gottes in ihren Herzen errichten. Das war der Weg der einzigen wahren Veränderung. Alles andere war äußerlich, oberflächlich, menschlich.
Sie aber wollten einen kurzfristigen Triumph: weltliche Macht, ein grandioses Erfolgserlebnis – aber ohne jeden bleibenden Wert. Immer wieder sagte er es in seinen Predigten:
„Verändert euch selbst, und die Welt hat sich verändert.“
Das war doch eigentlich schon deutlich genug. Aber selbst, wenn er seine Einstellung zum Kampf         gegen die Römer ohne wenn und aber gegen die Terrorakte der „Befreiungskämpfer“ stellte, schienen sie ihn nicht verstehen zu wollen oder zu können:
„Wer Gewalt anwendet, wird durch Gewalt umkommen. Ihr sollt aber den Frieden suchen und sogar eure Gegner nicht ablehnen. Wenn ihr ihnen friedvoll entgegentretet, dann werden sie auf Dauer nicht anders können, als diesen Frieden auch selbst zu spüren. Deshalb halte dem, der dich auf die linke Wange schlägt, auch die rechte Wange hin, um dich zu versöhnen.