Lebensdaten des Sokrates
- geb. 469 v. Chr.;
- sein Vater war Bildhauer, seine Mutter Hebamme;
- lernte selbst das Bildhauerhandwerk;
- nahm als Hoplit (ein mit Rüstung versehener Fußsoldat) an den Feldzügen nach Poteidaia (432), Delion (424) und Amphipolis (422) teil; ; :
- versuchte 406 in der Ratsversammlung vergeblich, ein illegales Todesurteil gegen Athener Feldherren zu verhindern;
- widersetzte sich unter dem Regime der „Dreißig“ dem Befehl, bei der Festnahme des Leon von Salamis mitzuhelfen;
- wurde 399 angeklagt und zum Tode verurteilt;
- ihm wurde Abfall von den alten Staatsgöttern und Gefährdung der Jugend vorgeworfen;
- lehnte die mögliche Flucht aus dem Gefängnis ab;
- trank 399 den Schierlingsbecher.
(EU 1/02, S. 12)
Philosoph von Athen
Kaum einer hat im 5. Jahrhundert v. Chr. so viel Aufsehen in Athen erregt wie der Philosoph Sokrates (ca. 470-399 v. Chr.). Durch seine besondere Methode der Gesprächsführung gelang es ihm, die Menschen zu fesseln. Nicht, dass er besonders gut reden konnte. Ausschlaggebend für seinen Erfolg war die Art und Weise, auf die Menschen einzugehen, wenn sie ihm von alltäglichen Problemen berichteten: Wann ist ein Krieger tapfer oder ein Jüngling glücklich? Sokrates wollte es genau wissen, und er fragte immer wieder nach, wenn jemand schwierige philosophische Begriffe wie Tapferkeit oder Glück verwendete. Er versuchte, gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern herauszufinden, was sie darunter verstehen: Könnte es sein, dass Tapferkeit etwas mit Waghalsigkeit zu tun hat oder mit Mut? Ist Feigheit das genaue Gegenteil von Tapferkeit? Sokrates begnügte sich auch nicht mit Behauptungen, sondern wollte Gründe erfahren, warum jemand tapfer oder glücklich ist. Dadurch half er seinen Gesprächspartnern, über ein Problem intensiver nachzudenken und sich selbst Rechenschaft zu geben. Wie halte ich es eigentlich selbst mit der Tapferkeit und dem Glück? Bin ich manchmal auch mutig oder feige? Die sokratische Art des Nachdenkens und Sich-Rechenschaft-Gebens missfiel der Obrigkeit von Athen. Wie konnte es jemand wagen, nicht auf die Götter, sondern auf den eigenen Verstand zu vertrauen? »Gotteslästerung« hieß es in der offiziellen Sprache. Sokrates verdirbt die Jugend und setzt auf sein daimonion (Gewissen). Diesem Treiben musste Einhalt geboten werden. Sokrates wurde vor Gericht gestellt und wegen Gotteslästerung angeklagt. Man verurteilte ihn zum Tod durch den Schierlingsbecher (Tod durch Gift). Sein Schüler Kriton akzeptierte das Urteil nicht und versuchte, seinen Lehrer zur Flucht zu bewegen.
Der Philosoph Platon (428-348 v. Chr.) war Schüler von Sokrates, der selbst keine Aufzeichnungen über seine Gespräche hinterlassen hat. Platon setzte ihm ein Denkmal, indem er ihn zur Hauptperson seiner Dialoge machte.
(EU 1/02, S. 22)
Sokrates und Platon
Platons Frühdialoge vermitteln nach Überzeugung der meisten Philologen und Althistoriker ein ziemlich authentisches Bild des Sokrates. Wenn das stimmt, dann besteht der wichtigste Unterschied zwischen Sokrates und Platon in ihrer erkenntnistheoretischen Position. Sokrates vertritt einen fallibilistischen Erkenntnisbegriff, Platon einen größtenteils pessimistischen, ausnahmsweise auch einen optimistischen Erkenntnisbegriff. Fast alle Menschen bleiben in ihren oberflächlichen Wahrnehmungen und Meinungen befangen, nur einige wenige – die Philosophen – werden eines göttlichen Wissens teilhaftig. Ihnen gelingt es, die Höhle unserer Erfahrungswelt zu verlassen und die unveränderlichen Gestalten oder Strukturen der Dinge anzuschauen, die Platon Ideen nennt. Man könnte diesen Erkenntnisbegriff auch als einen elitären der diskursiven Auffassung des Sokrates gegenüberstellen.
Platon
(um 428 bis ca. 347 v. Chr.), griechischer Philosoph und vermutlich der einflussreichste Denker der abendländischen Philosophie.
Leben
Platon war der Sohn einer Aristokratenfamilie aus Athen. Sein Vater, Ariston, soll angeblich ein Nachkomme der frühen Könige von Athen gewesen sein und seine Mutter, Periktione, eine entfernte Verwandte des athenischen Staatsmannes aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., Solon. Platons Vater starb früh, und seine Mutter heiratete Pyrilampes, einen Freund des Perikles.
Als junger Mann verschrieb sich Platon der Politik, wurde jedoch von der politischen Führung Athens enttäuscht. Schließlich wurde er Schüler des Sokrates und bekannte sich zu den Grundlagen seiner Philosophie und seinem dialektischen Erörterungsstil. 399 v. Chr. verurteilte Platon die Hinrichtung Sokrates und ging, weil er um seine eigene Sicherheit fürchten musste, einstweilen auf Reisen nach Italien, Sizilien und Ägypten.
387 v. Chr. gründete Platon in Athen die Akademie. Ihr breitgefächerter Studienplan umfasste die Gebiete der Astronomie, Biologie, Mathematik, der politischen Theorie und der Philosophie. Der berühmteste Schüler der Akademie war Aristoteles.
Auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Philosophie mit dem praktischen politischen Leben zu verbinden, ging Platon 367 v. Chr. nach Sizilien, um den neuen Herrscher von Syrakus, Dionysios II., in der Regierungskunst zu unterweisen, doch das Experiment scheiterte.
Werke
Platon schrieb seine Werke in Dialogform, und zwar werden anhand von Gesprächen zwischen zwei oder mehreren Personen philosophische Gedanken vorgetragen, diskutiert und kritisiert. Die älteste Sammlung von Platons Werken umfasst 35 Dialoge und 13 Briefe, wobei die Echtheit einiger Dialoge und der meisten Briefe umstritten ist. (Encarta 1997)
Platon: Das Höhlengleichnis
Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so dass sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hinab sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. […] Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. […] Meinst du wohl, dass dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? […] Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? […] Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, dass sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? […] Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? […] Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? […]
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Beschreiben Sie in eigenen Worten die Szenerie.
Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher, als was ihm jetzt gezeigt werde? […] Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird. […] Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. […] Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein. […] Und dann wird er schon herausbringen von ihr, dass sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist. […] Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt? […] Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, dass man auch nur versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?
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Rekapitulieren Sie in eigenen Worten den Erkenntnisprozess, den Platon gleichnishaft darstellt.
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Welchen Problemen sieht sich der Erkennende gegenüber?
Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon, musst du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das Gesicht uns erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne; und wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Gegend der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch dieses zu wissen begehrst. Gott mag wissen, ob er richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, dass zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, dass sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und dass also diese sehen muss, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten.
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Versuchen Sie Platons Vorstellungen, die er im Höhlengleichnis entwickelt, bildlich zu erfassen.
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Welche Konsequenz hat eine solche Auffassung für das Leben des Menschen?
(Platon, Politeia, Siebentes Buch; 514a-517c)
Platon: Menon
Sokrates: Sag’ mir doch, Junge, weißt du, was ein Viereck ist? Eine Figur wie diese?
Sklave: Ja. […]
Sokrates: Gesetzt nun, diese Seite wäre zwei Fuß lang und jene auch zwei, wie viel Fuß enthielte das Ganze? – Betrachte es einmal so: Wenn es hier zwei Fuß wären, dort aber nur ein Fuß, enthielte dann nicht die Figur genau einmal zwei Fuß?
Sklave: Ja.
Sokrates: Da es nun aber auch hier zwei Fuß sind, macht es dann nicht notwendig zweimal zwei Fuß?
Sklave: Doch.
Sokrates: Also ergibt sich eine Figur von zweimal zwei Fuß?
Sklave: Ja.
Sokrates: Wie viel sind nun diese zweimal zwei Fuß? Rechne einmal und sage es!
Sklave: Vier, Sokrates.
Sokrates: Ließe sich nun nicht eine andere Figur zeichnen, welche doppelt so groß als jene und doch jener insoweit gleich wäre, dass sie, wie jene, lauter gleiche Seiten hätte?
Sklave: Ja.
Sokrates: Und wie viel Fuß wird sie haben?
Sklave: Acht.
Sokrates: Wohlan, versuche es mir nun zu sagen: wie groß wird jede Seite dieser zweiten Figur sein? Im ersten Viereck hat jede zwei Fuß; wie viel hat nun jede in diesem, das doppelt so groß ist?
Sklave: Offenbar, Sokrates, das Doppelte.[…]
Sokrates: Wird nun nicht diese Seite noch einmal so groß wie zuvor, wenn wir ihr eine zweite von eben solcher Länge anfügen?
Sklave: Gewiss.
Sokrates: Aus dieser also, behauptest du, werde die achtfußige Figur hervorgehen, wenn nämlich die vier Seiten gleich lang gemacht werden?
Sklave: Ja.
Sokrates: Lass uns nun von ihr aus vier gleichlange Seiten zeichnen! – Dieses also wäre die Figur, welche du genau für das acht Fuß haltende Viereck erklärst?
Sklave: Allerdings.
Sokrates: Sind nun nicht in dieser Figur vier Vierecke, von denen jedes dem vier Fuß haltenden gleich ist?
Sklave: Ja.
Sokrates: Wie groß wird es also sein? Nicht wahr, viermal so groß?
Sklave: Wie anders?
Sokrates: Ist nun das viermal so große das doppelt so große?
Sklave: Nein, beim Zeus!
Sokrates: Sondern das wievielfache?
Sklave: Das vierfache.
Sokrates: Aus der doppelt so großen Seite also, mein Junge, ergibt sich nicht ein doppelt so großes, sondern ein viermal so großes Viereck?
Sklave: Ganz richtig. […]
(Platon, Menon, 82b-83c)
Der Ring des Gyges
Dass auch die Gerechten nur aus Ohnmacht zum Unrechttun, also wider Willen gerecht sind, kann man an folgendem Beispiel am besten erkennen. Wir denken uns, sie beide, der Gerechte und der Ungerechte, hätten Freiheit zu tun, was sie wollen, und beobachten dann, wohin die Triebe sie führen. Wir werden den einen auf dem gleichen Wege zur Macht ertappen wie den anderen; denn jedes Wesen strebt von Natur nach Macht als nach etwas Gutem; doch wird es durch die Gesetze gezwungen, bei der Gleichheit haltzumachen.
Eine derartige Freiheit hätten sie am vollständigsten, wenn ihnen die Gabe jenes alten Lydiers Gyges zuteil würde. Dieser Gyges soll als Hirt im Dienste des damaligen Königs von Lydien gestanden haben. Eines Tages, so erzählt die Sage, war ein gewaltiges Unwetter und Erdbeben; die Erde barst grade an der Stelle, wo er weidete, und es entstand ein Spalt. Er sah es, wunderte sich und stieg hinab. Unten fand er, heißt es weiter, allerhand wunderbare Dinge, darunter ein hohles Pferd aus Erz mit einer Öffnung, durch die man hineinschauen konnte. Er sah einen Leichnam von übermenschlichem Wuchs – so kam es ihm vor – drinnen liegen. Die Leiche hatte nichts weiter an sich als einen goldenen Ring am Finger. Gyges zog ihn ab und stieg wieder hinauf. Die Hirten hatten darauf ihre Zusammenkunft, um dem Könige den monatlichen Bericht über ihre Herden abzustatten, und Gyges nahm den Ring mit. Als er mit den anderen dasaß, drehte er von ungefähr den Stein des Rings herum nach der Handfläche zu. Sofort wurde er den Umsitzenden unsichtbar; sie sprachen von ihm, als ob er fortgegangen sei. Er wunderte sich, fasste den Ring und dreht den Stein wieder nach außen. Nun ward er sichtbar. Als er diese Entdeckung gemacht hatte, erprobte er, ob der Ring wirklich solche Kraft habe; und in der Tat wurde er jedes Mal, wenn er den Ring nach innen drehte, unsichtbar, nach außen, wieder sichtbar. Hierauf gelang es ihm schnell, unter die königlichen Boten aufgenommen zu werden. Er näherte sich der Königin, verführte sie, machte mit ihr einen Anschlag gegen den König, tötete ihn und bestieg selber den Thron.
Wenn es zwei solche Ringe gäbe und den einen der Gerechte, den anderen der Ungerechte am Finger hätte – ich glaube, so wird kein Gerechter jemals von so unbeugsamer Festigkeit sein, dass er gerecht bleibt und dass er es über sich gewinnt, seine Hand von fremdem Gute zu lassen. Er kann doch auf dem Markt wegnehmen, was er will; er kann in die Häuser gehen und jede Frau verführen, die ihm gefällt; er kann morden und aus dem Gefängnis befreien, wen er will; kurz, er kann wie ein höheres Wesen unter den Menschen leben. Wenn er so handelt, tut er dabei nichts anderes, als der Ungerechte tun würde. Sie beide gehen einen Weg. Das ist doch wohl ein gewichtiges Zeugnis dafür, dass man nicht freiwillig, sondern nur aus Zwang gerecht handelt, weil eben die Gerechtigkeit als solche kein Gut ist. Denn wo man sich stark genug fühlt zur Ungerechtigkeit, da ist man ungerecht. An sich ist die Ungerechtigkeit viel vorteilhafter als die Gerechtigkeit, das hält jeder für unbestreitbar. Denn wer in die Lage kommt und doch kein Unrecht tut, fremdes Gut nicht anrührt, der gilt allgemein für ganz jämmerlich und schwachsinnig. Vor der Welt lobt man ihn jedoch und belügt einander, weil man Furcht hat, Unrecht leiden zu müssen.
(Platon: Der Staat 359-361)
Cicero: De Officiis
Wir müssen nämlich […] davon hinlänglich überzeugt sein, dass wir, wenn wir sie vor allen Göttern und Menschen verheimlichen könnten, doch keine habsüchtige, keine ungerechte, keine willkürliche, keine unkontrollierte Handlung begehen dürfen. Hier wird jener Gyges vor Augen geführt, der, als die Erde sich bei einem äußerst starken Regen aufgetan hatte, in den Schlund hinabstieg und, so die Sage, ein ehernes Pferd bemerkte, an dessen beiden Seiten sich Öffnungen befanden. Er tat sie auf und sah die Leiche eines Mannes von nie gesehener Größe mit einem goldenen Ring an Finger. Sowie er diesen abgezogen hatte, legte er ihn selbst an, dann begab er sich wieder in die Versammlung der Hirten. Sooft er dort die Fassung des Ringes zur Handfläche hin gedreht hatte, wurde er von niemandem gesehen, er selbst aber sah alles. Andererseits wurde er wieder gesehen, sooft er den Ring in seine frühere Stellung gedreht hatte. Deshalb machte er sich diesen Vorteil des Ringes zunutze, trieb es mit der Königin – er war Hirte des Königs – und beseitigte mit ihrer Hilfe seinen königlichen Herrn, schaffte sich seine mutmaßlichen Gegner vom Halse, ohne dass bei derlei Untaten ihn jemand hätte sehen können. So stieg er dank dem Ring unerwartet zum König von Lydien auf. Wenn nun diesen Ring ein Weiser haben sollte, dann müsste er glauben, es stehe ihm keineswegs mehr frei, Fehler zu begehen, als dann, wenn er ihn nicht hätte. Denn Ehrenhaftigkeit wird von gutgesinnten Männern gesucht, nicht aber die Verborgenheit.
(M. Tullius Cicero: De officiis. Liber tertius 386-39.)
Horst Gronke: Postmoderner Sophist und moderner Sokrates
Sophist: […] Ich meine, wir sollten die Rede von wahr und falsch ganz abschaffen. […] Was ich für ungerecht halte, ist meine persönliche Entscheidung.
Sokrates: Ja, aber müssen Sie die denn nicht auch begründen?
Sophist: Wenn ich es versuchte, würde ich mir in die Tasche lügen. […] Jeder Grund, den ich angäbe, müsste aus einem anderen Grunde abgeleitet werden, dieser wieder aus einem anderen Grund usw. Bei einer Begründung entsteht immer ein unendlicher Regress [Rückführung auf den Grund einer Begründung]. Für den letzten Grund bleibt uns nur eine rein persönliche Entscheidung, die nicht mehr begründbar ist.
Sokrates: Das klingt einleuchtend. […] Nun, Sie zweifeln doch an meiner Behauptung, dass wir die Entscheidung für ein bestimmtes Handeln begründen sollen?
Sophist: Ja, Sokrates.
Sokrates: Was bringen Sie gegen meine Behauptung vor?
Sophist: Ich kann mehrere Gründe anführen, zum Beispiel …
Sokrates: Sie zweifeln also an meiner Behauptung, indem Sie Gründe anführen?
Sophist: Ja, und mein Zweifel sticht nur dann nicht, wenn Sie bessere Gründe geben können.
Sokrates: Ja? Haben Sie vorhin nicht gesagt, dass man für das, was man für richtig hält, keine Gründe angeben muss?
Sophist: Doch, das habe ich. […] Ich sehe schon, Sie haben mich aufs Glatteis geführt. Wenn ich etwas bestreite, dann habe ich anerkannt, dass Gründe gegeben werden sollen. Wenn ich zugleich behaupte, dass für meine oder Ihre Aussagen keine Gründe gegeben werden müssen, widerspreche ich mir selbst.
Sokrates: Ja, Sie begehen dann einen pragmatischen Selbstwiderspruch. […] Eine solche in sich widersprüchliche und deshalb sinnlose Sprechhandlung ist etwa auch: »Ich argumentiere (und erkenne damit die Regeln der Argumentation an), dass die Regeln der Argumentation für mich nicht gelten.
Sophist: Die Geltung der Argumentationsregeln kann ich also nicht sinnvoll bestreiten.
(Horst Gronke, Wen zwingt das bessere Argument?, in: ZDP 11/89, Heft 1, S. 56, nach EU 1/02, S. 37)
Gisela Raupach-Strey: Regeln des Sokratischen Gesprächs als Methode
Im folgenden seien nun die Regeln angegeben, die konstitutiv sind für das Paradigma Sokratischer Gespräche in der Nelson/Heckmann-Tradition:
1. An einem Sokratischen Gespräch kann jeder Mensch als vernunftfähiges Wesen teilnehmen, das gutwillig und bereit ist, sich auf die folgenden Regeln einzulassen: […]
4. Gesprächsziel ist eine Wahrheitserkenntnis bzw. eine Problemlösung; sie dokumentiert sich in einem Konsens aller am Gespräch Beteiligten, der auf eigener Einsicht und Zustimmung beruht. […]
5. Jede/r Gesprächsteilnehmer/in bemüht sich um klare und verständliche Sprache und um Klärung der eigenen Gedanken.
6. Jede/r Gesprächsteilnehmer/in bemüht sich um genaues Zuhören, Auffassen und Verstehen der Äußerungen der anderen Gesprächsteilnehmer/innen, und jede/r versucht den anderen ggf. zur inhaltlichen Klärung und (besseren) Formulierung ihrer Gedanken zu verhelfen: die Sokratische „Maieutik“ (= Hebammenkunst).
7. Jede/r sollte so viel sagen, wie notwendig ist, und so wenig (und unumständlich) wie möglich ist, um gemeinsam der Wahrheit bzgl. des behandelten Problems näher zu kommen. […]
8. Aufrichtigkeit: Jede/r stellt nur solche Behauptungen (incl. Bezweiflungen) auf, hinter denen er/sie steht, d. h. von denen er/sie zum Zeitpunkt der Äußerung ernsthaft überzeugt ist und die er/sie argumentativ zu verteidigen bereit ist.
9. Jeder einzelne, der eine Behauptung aufstellt, übernimmt die Verpflichtung, sie auf Nachfrage zu begründen. […]
10. Die Gesprächsgruppe ist gemeinsam verantwortlich für den Erkenntnisprozess, in dem […] so unvoreingenommen wie möglich Gründe und Gegengründe für aufgestellte Behauptungen gemeinsam (untersucht/ …). Über innere Zustimmung hat jeder allein, aber aufrichtig zu entscheiden.
11. Autorität für die Gültigkeit von Argumenten ist […]:
– das „Selbstvertrauen der Vernunft“ und
– der Logos-Grundsatz: der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“; aus letzterem folgt:
12. Revisionsbereitschaft: Wer eine neue Einsicht gewonnen, ggf. einen alten Irrtum erkannt hat […], der sollte die Bereitschaft aufbringen, dies um der Wahrheit willen mitzuteilen und dem Gespräch zugute kommen lassen.
13. Abgesehen von der Nötigung der Vernunft ist keinerlei Zwang erlaubt, weder direkter, noch struktureller. Alle Gesprächsteilnehmer/innen bemühen sich um eine möglichst gute Annäherung der realen Gesprächsbedingungen an die „ideale Sprechsituation“. […]
(Auszug aus: Gisela Raupach-Strey, Grundregeln des Sokratischen Gesprächs, in: Krohn/Neißer/Walter (Hg.), Neuere Aspekte des Sokratischen Gesprächs, Frankfurt a. M.: dipa-Verlag 1997 (Sokratisches Philosophieren Bd.4), S. 145-162. nach: EU 1/02, S. 37)
Schlussworte an die Richter
Also müsst auch ihr, Richter, gute Hoffnung haben in Absicht des Todes und dies eine Richtige im Gemüt halten, dass es für den guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode, noch dass je von den Göttern seine Angelegenheiten vernachlässigt werden. Auch die meinigen haben jetzt nicht von ungefähr diesen Ausgang genommen: sondern mir ist deutlich, dass Sterben und aller Mühen entledigt werden nun das beste für mich war. Daher auch hat weder mich irgendwo das Zeichen gewarnt, noch auch bin ich gegen meine Verurteiler und gegen meine Ankläger irgend aufgebracht. Obgleich nicht in dieser Absicht sie mich verurteilt und angeklagt haben, sondern in der Meinung, mir Übles zuzufügen. Das verdient an ihnen getadelt zu werden. Soviel jedoch erbitte ich von ihnen: An meinen Söhnen, wenn sie erwachsen sind, nehmt eure Rache, ihr Männer, und quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn euch dünkt, dass sie sich um Reichtum oder um sonst irgend etwas eher bemühen als um die Tugend; und wenn sie sich dünken, etwas zu sein, sind aber nichts: so verweist es ihnen wie ich euch, dass sie nicht sorgen, wofür sie sollten, und sich einbilden, etwas zu sein, da sie doch nichts wert sind. Und wenn ihr das tut, werde ich Billiges von euch erfahren haben, ich selbst und meine Söhne. Jedoch, es ist nun Zeit, dass wir gehen, ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott.
(Platon, Apologie, 41c-42a)
Literatur
Platon, Sämtliche Werke, Hamburg (Rowohlt) 1957ff
Ekkehard Martens, Die Sache des Sokrates, Stuttgart (Reclam) 1992
Ekkehard Martens, Zwischen Gut und Böse, Stuttgart (Reclam) 1997
Ethik und Unterricht, Heft 1/02, Friedrich Verlag, Velber, (Themenheft Sokrates), dort auch weitere Literatur